Das demokratische Prinzip

I.

Bei der Darlegung der Fragen des Kommunismus kommt es nicht selten zu Mißverständnissen, wenn Begriffe benutzt werden, die sowohl in dem einen wie in dem anderen Sinne verwendet werden können, z.B. die Begriffe "Demokratie" und "demokratisch". In seinen grundsätzlichen Aussagen tritt der marxistische Kommunismus als Kritik und Negation der Demokratie auf; andererseits verteidigen die Kommunisten in den proletarischen Organisationen oft den Gebrauch der Demokratie, deren demokratischen Charakter: wie in dem System der Arbeiterräte (Sowjetstaat), in den Gewerkschaften, in der Partei. Hier liegt gewiß kein Widerspruch vor, und es gibt nichts gegen den Gebrauch der Alternative: bürgerliche Demokratie oder proletarische Demokratie einzuwenden, solange sie gleichbedeutend mit dem Gegensatz zwischen bürgerlicher Demokratie und proletarischer Diktatur ist.

Die marxistische Kritik der Postulate der bürgerlichen Demokratie gründet sich in der Tat auf die Merkmale, die die bestehende in Klassen geteilte Gesellschaft aufweist; sie zeigt die theoretische Unhaltbarkeit sowie den praktischen Schwindel eines Systems, das die durch das Produktionssystem selbst bedingte Existenz der Klassengesellschaft mit dem Postulat der politischen Gleichheit aussöhnen will.

Die nach der liberalen Theorie im Wahlrecht verankerte politische Freiheit und Gleichheit machen nur auf einem Boden Sinn, auf dem die materiellen Lebensbedingungen nicht ungleich sind; deshalb akzeptieren wir Kommunisten auch Wahlen innerhalb der proletarischen Organisationen; ihre Funktionsweise soll, sagen wir, einen demokratischen Charakter tragen.

Auch wenn wir, um Mißverständnissen vorzubeugen und um die Aufwertung eines Begriffs zu verhindern, der ungeheuer suggestiv ist und den wir zu zerstören suchen, nicht zwei Begriffe für jeden der beiden Fälle einführen wollen, wird es jedenfalls nützlich sein, auf den allgemeinen Inhalt des demokratischen Prinzips etwas näher einzugehen, einschließlich seines Gebrauchs in bezug auf die homogenen Klassenorganisationen. Es geht darum: wenn wir uns einerseits abmühen, durch unsere Kritik den ganzen trügerischen und willkürlichen Inhalt der "liberalen" Lehren aus dem Wege zu räumen, dürfen wir andererseits nicht Gefahr laufen, erneut eine "Kategorie" anzuerkennen: das a priori als Faktor der absoluten Wahrheit und Gerechtigkeit gesetzte demokratische Prinzip; das zudem nur ein Fremdkörper in unserem ganzen theoretischen Korpus wäre.

II.

Einem Fehler in der politischen Taktik liegt immer ein theoretischer Fehler, oder anders gesagt, ein Übersetzungsfehler aus der Sprache unseres kritischen Bewußtseins zugrunde. So spiegelt sich die ganze verheerende Politik und Taktik der Sozialdemokratie in dem grundsätzlichen Fehler wider, wonach der Sozialismus einen wesentlichen Teil der liberalen Lehre geerbt habe, nämlich jener Auffassung, die sich gegen die alten, religiös begründeten politischen Doktrinen wandte. Seit seinem ersten Auftreten indes hat der Marxismus die Kritik des demokratischen Liberalismus am Adel und der absoluten Monarchie des "ancien regime" zerstört und nicht etwa als Grundlage für eine weitere Ausarbeitung übernommen. Damit keine Mißverständnisse aufkommen und unsere Zielrichtung deutlich wird, sagen wir gleich, daß es dabei nicht etwa darum ging, die religiösen oder idealistischen Lehren gegen den aufklärerischen Materialismus der bürgerlichen Revolutionäre zu verteidigen; die Zerstörung der liberalen Kritik sollte vielmehr zeigen, daß sich die Bürgerlichen, mit der politischen Philosophie der "Enzyklopädisten", tatsächlich nur eingebildet hatten, den idealistischen Unsinn und die Nebel der Metaphysik in Soziologie und Politik hinter sich gelassen zu haben. Zusammen mit ihren Vorgängern mußten sie der wirklichen Kritik der gesellschaftlichen Erscheinungen und dem Marxschen Materialismus weichen.

Ein anderer theoretischer Aspekt ist hier sehr wichtig. Im Laufe ihrer Zusammenarbeit mit der bürgerlichen Demokratie haben die Sozialdemokraten die Theorie der proletarischen Revolution so kraß entstellt, daß ihr mächtiger revolutionärer Inhalt völlig verwischt wurde. Um diesen Charakter wieder klar herauszuarbeiten, bzw. um den Graben zwischen Sozialismus und bürgerlicher Demokratie zu vertiefen, muß man aber keineswegs die Prinzipien des Sozialismus in einem idealistischen oder neo-idealistischen Sinn revidieren. Es genügt ganz einfach, auf die ursprüngliche Kritik unserer Lehrer an den Trugschlüssen der liberalen Auffassung und der bürgerlichen materialistischen Philosophie zurückzugreifen.

Aber bleiben wir bei unserem Thema. Die Kritik des Sozialismus an der Demokratie war im Grunde die Kritik an der demokratischen Kritik der alten politischen Philosophien, die Widerlegung des scheinbar allgemeinen Gegensatzes zwischen jenen zwei Denkschulen bzw. die Beweisführung ihrer theoretischen Verwandtschaft. Praktisch entsprach dem die Tatsache, daß sich das Proletariat vom Übergang der Staatsmacht aus den Händen des Feudaladels, der Monarchie und des Klerus in diejenigen der jungen Handels- und Industriebourgeoisie nicht viel versprechen konnte. Und die Beweisführung, daß die neue, bürgerliche Philosophie die alten Fehler der despotischen Ordnung nicht besiegt, sondern nur ein Gespinst aus neuen Trugschlüssen errichtet hatte, ging mit dem Auftreten der revolutionären Bewegung des Proletariats einher, was auf praktischer Ebene die Negation des bürgerlichen Anspruchs bedeutete, die gesellschaftlichen Angelegenheiten auf ewige, und mittels des allgemeinen Wahlrechts und des Parlamentarismus, auf friedliche und unbegrenzt vervollkommnungsfähige Grundlagen gestellt zu haben.

Den alten, auf religiösen Auffassungen oder direkt auf dem Prinzip der göttlichen Offenbarung beruhenden politischen Lehren zufolge sind es die übernatürlichen, das Bewußtsein und den Willen der Menschen lenkenden Kräfte, die bestimmten Individuen, Familien oder Ständen die Aufgabe übertragen, das gemeinschaftliche Leben zu leiten und zu regieren, wobei die Wahrung der "Autorität" dank göttlicher Investitur in ihre Hände gelegt ist. Die sich gleichzeitig mit der bürgerlichen Revolution behauptende demokratische Philosophie setzte dem die Proklamation der sittlichen, politischen und juristischen Gleichheit aller Bürger, ob Adligen, Kirchenfürsten oder Plebejern, entgegen; sie forderte, die "Souveränität" aus dem engen Kreis der Stände oder der Dynastie in die allgemeine Sphäre der Volksbefragung zu übertragen, so daß auf Grundlage des allgemeinen Wahlrechts die Staatshäupter nach dem Willen der Mehrheit aller Bürger ernannt werden.

Den Flüchen, die Priester und Spiritualisten gegen den "Rationalismus" der politischen Philosophie ausstießen, ist es jedenfalls kaum zu verdanken, wenn diese Anschauung nicht als endgültiger Sieg der Wahrheit über die dunklen Mächte gefeiert werden kann, obgleich sie für lange Zeit das letzte Wort in der Gesellschaftswissenschaft und in der Staatskunst zu sein schien und viele Sozialisten sich ihm verpflichtet fühlten. Die Behauptung, derzufolge seit Errichtung der Grundlagen für eine Regierungsbildung nach dem demokratischen Mehrheitsrecht die Zeit der "Vorrechte" überholt sei, kann der marxistischen Kritik nicht standhalten, weil der Marxismus ein ganz anderes Licht auf die Natur der gesellschaftlichen Erscheinungen wirft. Als bestechend logisches Bauwerk erscheint diese Auffassung nur dann, wenn man annimmt, daß jede Wählerstimme, also die Ansicht, die Meinung, das Bewußtsein eines jeden Wählers, der die Verwaltung der öffentlichen Angelegenheiten delegiert, das gleiche Gewicht habe. Folgende Überlegung soll vorerst genügen, um zu zeigen, wie wenig real und "materialistisch" dieser Begriff von der Sache ist: jeder Mensch gilt hier als in sich geschlossene "Einheit" eines aus lauter solch gleichen Einheiten bestehenden Systems; die Willensäußerung jedes Individuums wird als Ausdruck seiner "Souveränität", seiner Autonomie, gewertet, statt ins Verhältnis zu seinen Lebensbedingungen, dem Verhältnis zwischen den Menschen, gesetzt zu werden. Für die demokratische Auffassung findet sich das Bewußtsein noch immer jenseits der materiellen Determination; es wird nicht als deren Widerspiegelung begriffen, sondern als ein in jedem Organismus entzündetes Licht. Gleich unter welchen Bedingungen die Menschen leben: ein ihrem Denken nicht faßbarer Lebensspender hat gerecht und weise dafür Sorge getragen, daß das Licht in jedem gleich stark leuchtet, so daß nicht Er den Herrscher erwählt, sondern einem jedem die Gabe verliehen ist, ihn zu ernennen. Trotz ihres Anspruchs, rational zu sein, geht die demokratische Ideologie von Voraussetzungen aus, die durch eine naive Metaphysik gekennzeichnet sind. Darin unterscheidet sie sich kaum vom Katholizismus, der den Menschen einen "freien Willen" unterstellt, von dessen Gebrauch Heil und Verdammung im Jenseits abhängen. Die demokratische Ideologie stellt sich also außerhalb der Zeit und der geschichtlichen Bedingungen und ist damit dem Spiritualismus nicht minder verhaftet als es die von ihm durchdrungenen Philosophien waren, nach denen jede Autorität von Gott ausgeht und die Monarchien auf göttlichem Recht beruhen.

Wer diese Gegenüberstellung vertiefen möchte, hätte nur daran zu erinnern, daß die politische Doktrin der Demokratie bereits Jahrhunderte vor der Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte und der großen französischen Revolution von Denkern aufgestellt wurde, die noch ganz auf dem Boden des Idealismus und der Metaphysik standen. Im übrigen hat die französische Revolution zwar die Altäre des Christengottes im Namen der Vernunft gestürzt, konnte aber nicht umhin, aus ihr selbst einen neuen Gott zu machen.

Diese mit dem Wesen der marxistischen Kritik unvereinbare metaphysische Prämisse ist nicht nur den Denkgebäuden des bürgerlichen Liberalismus eigen, sondern allen Verfassungslehren und Gesellschaftsentwürfen, die sich auf den "immanenten Zweck" bestimmter gesellschaftlicher und staatlicher Verhältnisse gründen. Seine Geschichtsauffassung formulierend, zerstörte der Marxismus zugleich den mittelalterlichen Idealismus, den bürgerlichen Liberalismus und den utopischen Sozialismus.

III.

Diesen undurchsichtigen Gesellschaftsentwürfen, den aristokratischen wie den demokratischen, den autoritären oder liberalen, deren Irrtümer die anarchistische Anschauung aufgrund ihrer Vorstellung von einer Gesellschaft ohne Hierarchie und Machtvertretungen teilt, setzte der kritische Kommunismus eine sehr viel tiefere Untersuchung der Struktur und der Ursachen der gesellschaftlichen Verhältnisse entgegen, die den Werdegang der Geschichte in ihrer komplexen Entwicklung kennzeichnen, ebenso eine genaue Analyse des Charakters dieser Verhältnisse in der kapitalistischen Epoche und eine Reihe mächtiger Thesen ihrer weiteren Transformation, denen heute der großartige theoretische und praktische Beitrag der proletarischen Revolution in Rußland hinzugefügt wird.

Es ist nicht nötig, hier näher auf die Begriffe des ökonomischen Determinismus und die Beweisführung seiner Tiefe bei der Erklärung der historischen Tatsachen und gesellschaftlichen Mechanismen einzugehen. Dadurch, daß vom Terrain der Produktion und Ökonomie und den daraus entspringenden Klassenverhältnissen ausgegangen wird, werden gleichermaßen die konservativen wie die utopistischen Apriorismen beseitigt und der Weg für eine wissenschaftliche Erklärung der verschiedenen juristischen, politischen, militärischen, religiösen und kulturellen Erscheinungen des gesellschaftlichen Lebens geebnet.

Wir werden uns auf eine grobe Skizze der historischen Entwicklungsstufen beschränken, die durch die gesellschaftlichen Gliederungen und menschlichen Gemeinschaften hindurch verfolgt werden können; wegweisend dabei sind nicht nur die staatlichen Formen, die das abstrakte Gebilde einer alle Individuen vereinigenden Gemeinschaft darstellen, sondern ebenso die verschiedenen Organismen, deren Herausbildung das Ergebnis der jeweiligen Beziehungen zwischen den Menschen ist.

Das Verständnis jeder gesellschaftlichen Struktur, ob in einem sehr weiten oder sehr engen Rahmen gesehen, muß sich auf die Beziehungen zwischen den Menschen gründen, denen ihrerseits wieder die Arbeitsteilung zugrunde liegt.

Wir begehen keinen groben Fehler, wenn wir uns zunächst eine Lebensform der menschlichen Gattung ohne jede Gliederung vorstellen. Die wenigen Menschen konnten von den Gaben der Natur leben, ohne sie bearbeiten oder umformen zu müssen; unter diesem Gesichtspunkt waren die einzelnen nicht auf ihresgleichen angewiesen. Die einzigen Beziehungen waren die der Reproduktion, die allen Gattungen gemeinsam sind. Aber für die menschliche Gattung, und nicht nur für sie, reicht dies schon aus, um ein Beziehungssystem und folglich eine Gliederung zu errichten: zunächst in der Familie. Auf ihre verschiedenen Formen, polygam, polyandrisch oder monogam, werden wir hier nicht näher eingehen; fest steht, das sie die embryonale Form eines organisierten gemeinschaftlichen Lebens auf Grundlage einer Aufgabenteilung bildet. Und diese ist unmittelbar physiologisch bestimmt: die Mutter ist bei den Nachkommen und zieht sie auf, der Vater kümmert sich um die Jagd, die Beute und den Schutz vor äußeren Feinden. Wie bei den nachfolgenden Entwicklungsphasen der Produktion und des Wirtschaftslebens, so hat es auch im Hinblick auf diesen Urzustand, wo man von Produktion und Wirtschaft kaum reden kann, keinen Sinn, sich bei der abstrakten Frage aufzuhalten, was nun die eigentliche Einheit bilde, das Individuum oder die Gesellschaft. Biologisch stellt das Individuum zweifellos eine Einheit dar, aber es ist metaphysische Klügelei, es deshalb zur Grundlage gesellschaftlicher Strukturen zu machen. Vom Standpunkt der Gesellschaft aus haben nicht alle einzelnen dieselbe Bedeutung, denn die Gemeinschaft besteht aus Verhältnissen, worin die Rolle und die Tätigkeit jedes Individuums infolge der vielfältigen gesellschaftlichen Wirkungen keine individuelle sondern eine kollektive Funktion hat. Selbst in diesem Falle also, wo wir von einer gesellschaftlichen Organisation oder überhaupt einer Gesellschaft noch gar nicht sprechen können, widerlegt die durch physiologische Faktoren bedingte Gliederung in der Familie schon jene willkürliche Darstellung, nach der das Individuum eine weiter nicht teilbare Einheit (das ist der Wortsinn des Begriffs) bilde und anderseits die komplexeren Formen aus der Summe lauter solcher Einheiten beständen, deren Besonderheiten und in einem gewissen Sinn Gleichwertigkeit dadurch nicht verloren gehe. Aber, das liegt auf der Hand, auch die Gesellschaft als Einheit existiert hier nicht, denn die Beziehungen zwischen den Menschen, sei es nur als bloße Kenntnis ihrer Existenz, sind äußerst begrenzt und gehen über den Kreis der Familie oder des Clans nicht hinaus. Eine Schlußfolgerung, die sich von selbst aufdrängt, können wir hier vorwegnehmen: die Gesellschaft war noch nie eine "Einheit", selbst in der Zukunft wird sie es wahrscheinlich nur als, mathematisch gesprochen, "Grenzwert" sein, dem wir uns durch die Aufhebung der Klassen und der Staatsgrenzen allmählich annähern werden.

Das Individuum als Einheit kann als Ausgangspunkt für die Untersuchung der Gesellschaft bzw. für die Errichtung von Gesellschaftslehren, oder auch umgekehrt für die Negation der Gesellschaft, nur genommen werden, wenn man von einer wirklichkeitsfremden Annahme ausgeht, die auch in ihren modernsten Darlegungen im Grunde nichts anderes als eine modifizierte Wiedergabe von Begriffen wie göttlicher Offenbarung, Schöpfung, Unabhängigkeit des Denkens von den natürlichen und organischen Lebensbedingungen ist. Die religiöse oder idealistische Anschauung, wonach der göttliche Schöpfer oder eine das Schicksal der Welt lenkende Kraft jedem Individuum eine Seele eingehaucht hat, die aus ihm ein in sich geschlossenes, bewußtes, willensfähiges und verantwortliches, von den materiellen Bedingungen und Überbauerscheinungen unabhängiges Molekül des gesellschaftlichen Gefüges macht - diese Anschauung erfährt in den Auffassungen des demokratischen Liberalismus und des anarchistischen Individualismus nur formelle Umwandlungen: von der Seele, als vom höchsten Wesen entzündete Flamme, zur Souveränität des Wählers oder zur unbegrenzten Autonomie des Bürgers in einer nicht Gesetzmäßigkeiten unterworfenen Gesellschaft. So entschlossen "materialistisch" sich die ersten liberalen Bourgeois und Anarchisten vorgewagt haben, im Lichte der marxistischen Kritik leiden ihre Philosopheme doch an der gleichen Naivität wie ihre Vorgänger.

Dieser Begriff der Sache hat seine Entsprechung in der gleichermaßen idealistischen Annahme von der Gesellschaft als vollkommener Einheit. Es handelt sich um den gesellschaftlichen "Monismus", dessen Grundlage der unser Gattungsleben lenkende und bestimmende göttliche Willen sein soll. Als wir uns weiter oben mit dem Urzustand des gemeinschaftlichen Lebens befaßten und auf die Familienorganisation stießen, kamen wir zum Ergebnis, daß wir bei der Untersuchung des Lebens und des Entwicklungsprozesses der Menschheit ohne die metaphysische Hypothese auskommen, nach der das Individuum oder die Gesellschaft die eigentliche "Einheit" bildet. Wir können indessen positiv sagen: wir finden eine auf einheitlicher Grundlage organisierte Gemeinschaft, die Familie, vor. Aber wir werden uns hüten, nun in der Familie - wie die Anarchisten im Individuum oder die absolute Monarchie in der ständischen Ordnung - einen starren und ewigen Typus verkörpert zu sehen oder sie gar als Modell des sozialen Lebens zu idealisieren. Wir stellen lediglich die Existenz dieser ursprünglichen Einheit menschlicher Organisation fest: ihr werden andere Formen folgen, sie selbst wird sich in vielerlei Hinsicht verändern und als Bestandteil in andere Gemeinwesen eingehen. Anzunehmen ist, daß die Familie in einer höheren Gesellschaftsform verschwinden wird. Wir verspüren nicht das geringste Bedürfnis, aus Prinzip für oder gegen die Familie oder z.B. für oder gegen den Staat zu sein. Uns geht es darum, die Entwicklung dieser Form menschlicher Organisation so gut wie möglich zu begreifen. Wenn wir uns fragen, ob sie eines Tages verschwinden wird, so tun wir das so unvoreingenommen wie es eben geht, denn es entspricht nicht unserer Denkweise, sie als heilig und unantastbar oder umgekehrt als schädlich und der Zerstörung würdig zu betrachten. Das ist Sache des Konservatismus und seiner Kehrseite (also der Negation jeder Form gesellschaftlicher Organisation und sozialer Gliederung), die beide theoretisch gleich schwach sind und praktisch zu keinem Ergebnis führen.

Wir lassen also die herkömmliche Gegenüberstellung der Kategorien Individuum und Gesellschaft beiseite und verfolgen die Bildung und Entwicklung anderer Einheiten, d.h. anderer organisierter Gemeinschaftsformen im Laufe der Menschheitsgeschichte. Es handelt sich um auf bestimmte Aufgaben- bzw. Arbeitsteilungen und soziale Hierarchien gegründete mehr oder minder große Gemeinschaften, die als Faktoren und Akteure des gesellschaftlichen Lebens auftreten. Nur bedingt lassen sie sich mit organischen Einheiten, den Lebewesen, vergleichen, dessen Zellen verschiedene Funktionen erfüllen und verschiedene Stellungen einnehmen. Anstelle der Zellen treten hier einzelne Menschen und Menschengruppen. Aber auch dieser Vergleich hinkt, denn ein Lebewesen ist durch Grenzen definiert und macht eine biologische Entwicklung durch, an deren Ende es stirbt. Anders die organisierten gesellschaftlichen Einheiten: sie haben keine festen Grenzen und erneuern sich unaufhörlich, indem sie sich, gleichzeitig auflösend und wieder neubildend, untereinander verflechten. Wir haben von dem ersten, auf der Hand liegendem Beispiel der Familie gesprochen, weil wir zeigen wollten, daß, wenn diese Einheiten auch selbstverständlich aus Individuen bestehen und ihre Zusammensetzung wechselt, sie dennoch als organisches "Ganzes" handeln, so daß ihre Zerfällung in individuelle Einheiten nur eine mythologische und unwirkliche Bedeutung hat. Das Element der Familie hat ein einheitliches Leben, das nicht durch die Anzahl der in ihr zusammengeschlossenen Individuen, sondern durch deren Beziehungen zueinander definiert ist; so hat, um es banal auszudrücken, eine aus einem Mann, Frauen und einigen Alten bestehende Familie nicht die gleiche Funktion wie eine, die neben den Eltern noch einige junge und kräftige Söhne zählt.

Schon in dieser ersten, aus einzelnen gebildeten Einheit treten Formen von Aufgabenteilung, von Hierarchie, von Autorität, von Leitung der Tätigkeiten und von Verwaltung auf. Im Laufe der Entwicklung durchlaufen die Menschen unzählige andere Organisationsformen, die immer breiter und komplexer werden und durch eine immer komplexere Gliederung der gesellschaftlichen Beziehungen und Hierarchien gekennzeichnet sind. Geht man der Ursache dieser zunehmenden Komplexität nach, stößt man auf eine immer größere gesellschaftliche Differenzierung, die ihrerseits durch die Produktionssysteme determiniert ist. Technik und Wissenschaft erlauben die Einführung dieser neuen Systeme und so eine Entfaltung der Produktion: die immer größere Anzahl von Produkten (im weitesten Sinne des Wortes) befriedigt die Bedürfnisse von immer größeren Gemeinschaften und ermöglicht den Übergang zu immer höheren Lebensformen. Will man den Entstehungs- und Transformationsprozeß der menschlichen Organisationen und ihre Wechselbeziehungen innerhalb der Gesamtgesellschaft verstehen, so muß man die Entwicklung der Produktivkräfte und der Produktionsverhältnisse, d.h. der Beziehungen, welche die Menschen infolge der gesellschaftlichen Arbeitsteilung untereinander eingehen, zum Ausgangspunkt der Untersuchung machen. Gestützt auf eine solche Untersuchung lassen sich Entstehung und Verlauf von Dynastien, Ständen, Armeen, Staaten, Reichen, Zünften und Parteien verfolgen. Auf dem Höhepunkt dieser komplexen Entwicklung wird die Form einer organisierten Einheit vorstellbar, die mit den Grenzen der Menschheit selbst zusammenfällt und eine rationelle und gesellschaftliche Aufgabenteilung verwirklicht; ebenso wird man beginnen können, über die Bedeutung und die Grenzen zu sprechen, die ein hierarchisches System gesellschaftlicher Verwaltung in dieser höheren Form des menschlichen Zusammenlebens haben wird.

IV.

Wenn wir nun zur Untersuchung jener einheitlichen Organismen kommen, deren innere Beziehungen auf dem gegründet sind, was gemeinhin das "demokratische Prinzip" genannt wird, wollen wir zunächst einfach zwischen solchen organisierten Gemeinschaften unterscheiden, deren Hierarchie von außen bestimmt wird und solchen, die sie aus sich selbst und für sich bilden. Nach den religiösen Anschauungen und der reinen Obrigkeitslehre ist jede menschliche Gesellschaft eine Summen-Einheit, die ihre Gliederung durch übernatürliche Mächte empfängt; auf die Kritik dieser der ganzen Erfahrung widersprechenden metaphysischen und der Oberfläche verhafteten Auffassung werden wir hier nicht wieder zurückkommen. Die Hierarchie ist ein naturwüchsiges Produkt der Aufgabenteilung, wie in der Familie. Als sie sich zur Sippe, zum Stamm erweiterte, mußte sie sich zum Zwecke der Bekämpfung andere Organisationen eine Gliederung geben: die militärische Hierarchie entsprang der Notwendigkeit, demjenigen die Befehlsgewalt anzuvertrauen, der die gemeinsamen Kräfte am besten einzusetzen in der Lage war. Könige, Heerführer und Priester wurden ursprünglich gewählt, aber das Kriterium für ihre Wahl, die Jahrtausende vor der modernen Wahlgläubigkeit bestand, wurde später von anderen Kriterien für die Hierarchiebildung überlagert: die zumeist erbliche Zugehörigkeit zu geschlossenen Schulen, Sekten und Kulten führte zu Kasten- oder Standesprivilegien, wobei es in der Regel einen durch besondere Begabungen und Funktionen erreichter Rang ist, dessen Besitzer am meisten Einfluß auf die Weitergabe dieses Ranges hat. Doch wir haben, wie gesagt, nicht vor, dem Entstehungsprozeß von Ständen und dann Klassen zu folgen. Die Arbeitsteilung, die natürlich notwendig ist, wurde von einem Macht- und Einflußmonopol überschichtet, das mit der privilegierten Stellung bestimmter Stände im ökonomischen Mechanismus zusammenfiel. Jeder führende Stand bildete auf die eine oder andere Art und Weise eine eigene Organisation und Hierarchie, und so auch die ökonomisch privilegierten Klassen. Um nur ein Beispiel zu nennen: im Mittelalter schloß sich der Landadel, um seine Vorrechte gegen die Angriffe anderer Klassen zu schützen, zu einer Organisationsform zusammen, dessen Spitze die Monarchie bildete; an der Bildung der in ihren Händen konzentrierten staatlichen Gewalt hatten alle anderen nicht den geringsten Anteil. Im Mittelalter war der Staat die Organisation des Feudaladels, der vom Klerus unterstützt wurde, und deren wichtigstes Herrschaftsinstrument das Heer war. Wir haben hier einen Organisationstyp vor uns, dessen Hierarchie von außen bestimmt wird: das Heer beruht auf dem passiven Gehorsam all seiner Mitglieder, die Heeresführer werden vom König ernannt. Die Macht, eine Reihe von hierarchisch gegliederten Exekutivorganen, wie Heer, Polizei, Gerichtswesen und Bürokratie zu besetzen und zu lenken, wird in jeder Staatsform vereinheitlicht und zentralisiert. Die Einheit "Staat", die von der Tätigkeit der Individuen aller Klassen lebt, organisiert sich also auf der Grundlage einer einzigen privilegierten Klasse, oder doch sehr wenigen, denen die Macht, die verschiedenen Hierarchien aufzubauen, vorbehalten bleibt. Die anderen Klassen bzw. allen Gruppen, denen nur zu deutlich vor Augen steht, daß die vorhandene Staatsorganisation trotz gegenteiliger Behauptung keineswegs die Interessen und Bedürfnisse aller sicher stellt, versuchen eigene Organisationen zu bilden, um ihre Interessen durchzusetzen. Ausgangspunkt der gemeinsamen Interessen ist grundsätzlich die gleiche Stellung aller ihrer Mitglieder in der Produktion und im Wirtschaftsleben.

Wenn wir uns nun mit jenen Organisationen befassen, die ihre eigenen Hierarchien bilden, stellt sich natürlich die Frage, wie ihr Aufbau bestimmt werden soll, um die allen ihren Mitgliedern gemeinsamen Interessen zu wahren und zu verhindern, daß sich privilegierte Schichten herausbilden. Hier stoßen wir wieder auf das Verfahren, das auf dem demokratischen Prinzip beruht, nämlich jeden einzelnen zu befragen und nach dem Mehrheitsvotum, diejenigen zu benennen, die die verschiedenen Posten in der Hierarchie einnehmen sollen.

Wenn dieses Verfahren auf die heutige Gesellschaft oder bestimmte Nationen angewendet werden soll, muß unsere Kritik daran sehr viel härter ausfallen, als wenn es um dessen Einführung in viel enger umrissenen Organisationen wie den proletarischen Gewerkschaften und Parteien geht.

Im ersten Fall ist es hohl und ohne weiteres zurückzuweisen. Die ökonomischen Bedingungen, denen die einzelnen unterworfen sind, werden in keiner Weise berücksichtigt, und zwar unter dem Vorwand, das System sei an und für sich vollkommen; dem Entwicklungsprozeß der Gemeinschaft, in der das demokratische Verfahren Geltung haben soll, kommt dabei überhaupt keine Beachtung zu.

Die aufgrund ökonomischer Privilegien deutliche Spaltung in Klassen hat zur Folge, daß Mehrheitsentscheidungen jede Bedeutung verlieren. Unsere Kritik entlarvt den Schwindel, wonach der aus den liberalen Verfassungen hervorgehende demokratische und parlamentarische Staatsmechanismus eine Organisation aller im Interesse aller sei. Solange Interessengegensätze und Klassenkämpfe bestehen, ist keine einheitliche Organisation möglich. Trotz des äußeren Scheins von Volkssouveränität bleibt der Staat das Organ der ökonomisch herrschenden Klasse und das Instrument zum Schutz ihrer Interessen. Auch wenn ihre politischen Vertretungen (die parlamentarischen Organe) demokratisch gewählt werden, betrachten wir die bürgerliche Gesellschaft als einen Gesamtkomplex verschiedener Organisationen und Vereinigungen, von denen sich viele um den mächtigen und zentralisierten politischen Staat scharen, nämlich jene aus den privilegierten Schichten hervorgegangenen Organisationen, denen es um die Sicherung der bestehenden Gesellschaftsordnung geht. Einige verhalten sich neutral oder ändern von Fall zu Fall ihre Haltung gegenüber dem Staat, andere schließlich entstehen innerhalb der besitzlosen und ökonomisch ausgebeuteten Klassen; sie richten sich gegen den bestehenden Klassenstaat. Wie der Kommunismus zeigt, hat das auf der rechtlichen und politischen Gleichheit aller beruhende demokratische oder Mehrheitsprinzip nur formalen Charakter, solange die ökonomisch bedingte Klassenspaltung besteht - es taugt nicht, den Staat als organisierte Einheit der ganzen Gesellschaft oder Nation zu charakterisieren. Zwar stützt sich die politische Demokratie auf diese Behauptung, re vera ist sie eine Form, die der spezifischen Herrschaft der kapitalistischen Klasse und ihrer tatsächlichen Diktatur zur Sicherung ihrer Privilegien entspricht.

Wir brauchen uns also bei der vernichtenden Kritik des Marxismus an dieser falschen Auffassung nicht allzu lange aufhalten. In der politischen Demokratie ist jede Stimme gleich frei und reif, egal ob sie einem durch körperliche Mühen zermürbten Arbeiter oder einem reichen Müßiggänger, einem gerissenen Industriellen oder einem Proletarier gehört, der tief im Elend steckt, aber die Ursachen seiner Leiden nicht kennt und keinen Ausweg erblickt. Jeder von ihnen geht von Zeit zu Zeit los, seine "souveräne" Rolle zu spielen und zu erfüllen; das reicht aus, um Ruhe und Ordnung zu sichern, ebenso wie sich des Gehorsams all derjenigen zu versichern, die durch die staatliche Politik und Verwaltung wie Hühner gerupft werden.

V.

Daß dem demokratischen Prinzip kein immanenter Zweck innewohnt und daß es als Prinzip nicht taugt, haben wir geklärt; es ist vielmehr ein einfacher Organisationsmechanismus, der auf der banalen arithmetischen Regel beruht: die Mehrheit hat Recht und die Minderheit Unrecht. Sehen wir nun, ob und inwieweit dieser Mechanismus nützlich und ausreichend ist, wenn es sich um Organisationen handelt, deren Mitgliedschaft homogen und nicht durch ökonomische Gegensätze zerrissen ist, wobei auch ihr Entwicklungsprozeß zu berücksichtigen ist.

Ist der demokratische Mechanismus in der Diktatur des Proletariats, also jener Staatsform, die nach dem revolutionären Sieg der aufständischen Klasse über die bürgerliche Staatsmacht errichtet wird, anwendbar? Kann diese Staatsform aufgrund ihres internen Vertretungs- und Hierarchieaufbaus als "proletarische Demokratie" bezeichnet werden? An die Frage muß vorurteilslos herangegangen werden. Es kann gut sein, daß man zu dem Ergebnis kommt: ja, solange der Gang der Dinge nicht ein besseres Verfahren hervorbringt, nützen die Bestimmungen dieses Mechanismus auch unserer Diktatur; man muß aber sehen, daß es keinen einzigen Grund gibt, der dafür spricht, das "Mehrheitsprinzip" des Proletariats a priori festzuschreiben. Es ist, am Tag nach der Revolution, noch keine völlig homogene Klasse. Noch nicht einmal unbedingt eine einzige Klasse: in Rußland etwa liegt die Macht in Händen der Arbeiter und Bauern; jedoch wird bei auch nur flüchtiger Betrachtung der Entwicklung der revolutionären Bewegung schnell deutlich, daß das Industrieproletariat, numerisch geringer als die Bauernklasse, darin eine sehr viel größere Rolle spielt als letztere. Es ist daher folgerichtig, wenn einer Arbeiterstimme in den Sowjets, im Rätesystem, ein größeres Gewicht zuerkannt wird.

Wir können hier nicht die ganze Untersuchung der Funktionsweise des proletarischen Staates leisten. Wir fassen ihn nicht unter einem ihm innewohnenden Aspekt, wie die Reaktionäre die Monarchie von Gottes Gnaden, die Liberalen den Parlamentarismus mit allgemeinem Wahlrecht oder die Anarchisten die Staatslosigkeit. Der proletarische Staat als Organisation einer Klasse im Kampf gegen andere Klassen, die ihrer ökonomischen Privilegien beraubt werden müssen, ist eine materielle historische Kraft, der sich nach den Zielen, die er hat, d.h. nach den Notwendigkeiten, die ihn hervorbrachten, richtet. Unter bestimmten Umständen erhält er seinen Antrieb durch breiteste Massenabstimmungen, unter anderen Umständen wiederum durch die Entscheidungen eines sehr kleinen und mit uneingeschränkter Vollmacht versehenen Exekutivkomitees. Das Wesentliche ist, daß diese proletarische Machtorganisation über die Mittel und Waffen verfügt, um den politischen und militärischen Widerstand der Bourgeoisie zu zerschlagen und ihre ökonomischen Privilegien auszuradieren. Nur so kann sie die Abhebung der Klassen einleiten und den Boden für eine immer tiefere Transformation ihrer eigenen Struktur und Funktion vorbereiten.

Außer Frage steht: während die bürgerliche Demokratie in Wirklichkeit nur das Ziel hat, jeden Einfluß der großen proletarischen und kleinbürgerlichen Massen auf die Staatsführung auszuschließen, die den großen Oligarchien der Industrie, der Finanz und des Grundbesitzes vorbehalten ist, muß die proletarische Diktatur die breitesten Schichten der proletarischen und auch halbproletarischen Massen in den Kampf, den sie verkörpert, einbinden können. Dieses Ziel kann nicht erreicht werden, wenn es mit einem flächendeckenden Befragungsmechanismus oder Wahlapparat verwechselt wird, außer man geht von bürgerlichen Vorurteilen aus. Ein derartiges Wahlsystem kann zuviel des Guten tun, noch öfter aber zu wenig. Viele Proletarier würden nach ihrer Wahlteilnahme jeder weiteren aktiven Teilnahme am Klassenkampf fernbleiben. Zum anderen verlangt die Schwere des Kampfes in manchen Phasen schnelle Entscheidungen und Reaktionen und die Zentralisierung aller Anstrengungen in eine gemeinsame Richtung. Um die Passivität des Proletariats zu verhindern und die Zentralisierung zu gewährleisten, gründet der proletarische Staat seine Vertretungskörperschaften, wie uns die lehrreichen Erfahrungen in Rußland zeigen, auf Merkmalen, die direkt die demokratischen Regeln brechen, weshalb sich deren Anhänger auch über die Vergewaltigung der Freiheit dort empören. In Wirklichkeit werden nur die spießbürgerlichen Vorurteile entlarvt, mit denen die Demagogen es stets verstanden haben, die Macht der Privilegierten zu rechtfertigen. Im diktatorischen Staat des Proletariats nimmt, wenn nicht die ganze Masse, so doch eine breite Schicht ihrer Delegierten ständig und nicht nur zeitweise an den Funktionen des politischen Lebens teil, in dem die Vertretungskörperschaften zugleich beratend-beschließende und vollziehende Organe sind. Bemerkenswert ist, daß dies gerade mit Kriterien erreicht wird - und zudem im Einklang, nicht im Widerspruch mit dem einheitlichen Charakter der Tätigkeit des ganzen Apparates steht -, die denen des bürgerlichen Hyperliberalismus entgegengesetzt sind: nach dem sich, wie wir oben sahen, über den heiligen Grundsatz der Stimmengleichheit hinweggesetzt wurde, wird auch die Direktwahl und das Verhältniswahlrecht im großen und ganzen beseitigt.

Wir sagen nicht, daß diesen neuen Kriterien der Vertretungskörperschaften prinzipielle Gründe zugrunde liegen: unter veränderten Umständen können es andere sein, jedenfalls aber bleiben wir dabei, daß den Organisations- und Vertretungsformen kein immanenter Zweck beizulegen ist, nur anders formuliert ist das in der marxistischen Grundthese, nach der "die Revolution keine Frage der Organisationsform ist". Die Revolution ist im Gegenteil eine Frage des Inhalts, also der Bewegung und Aktion der revolutionären Kräfte, die einen unaufhörlichen Prozeß durchmachen. Der wirkliche Gang der Revolution läßt sich in keinem dieser verschiedenen Entwürfe von starren "Verfassungslehren" idealtypisch festlegen.

In den Vertretungen der Arbeiterräte finden wir überhaupt nicht mehr jene typische Regel der bürgerlichen Demokratie, derzufolge jeder Bürger durch Direktwahl seinen Abgeordneten in das oberste Vertretungsorgan, d.h. ins Parlament, wählt. Es gibt im Gegenteil eine Vielstufigkeit von Arbeiter- und Bauernsowjets. Jede höhere Stufe erfaßt eine immer größere territoriale Einheit, bis hin zum Sowjetkongreß: jeder Gemeinde- und Bezirkssowjet wählt seinen Delegierten für den nächsthöheren Rat und zugleich seine Verwaltung, d.h. das jeweilige Exekutivorgan. An der Basis, d.h. in den Gemeinde- und Bezirksräten, wird die ganze Masse befragt. Die Wahl der Delegierten für die höheren Räte und für die anderen Posten erfolgt dann aufgrund von Parteilisten, und zwar immer als Mehrheits- und nicht als Verhältniswahl. Da es sich im übrigen zumeist um die Wahl eines einzigen Delegierten handelt, der die Verbindung zwischen zwei Stufen des Rätesystems herstellen soll, werden zugleich zwei Dogmen des formalen Liberalismus gestürzt, nämlich die Listenwahl und das Verhältniswahlrecht. Da die Räte nicht nur beratende und beschließende, sondern auch vollziehende, eng an die Zentralexekutive gebundene Körperschaften sein müssen, ist es nur natürlich, daß es sich, je höher die Stufe ist, desto weniger um parlamentarische Schwatzbuden handeln kann, wo ununterbrochen disputiert und niemals gehandelt wird, sondern um kompakte und homogene Organe, die fähig sind, den politischen Kampf, die politische Tätigkeit zu leiten und den revolutionären Weg zu zeigen, der die eingegliederten Massen vereinigt.

Ein solches System wird zu einem in sich geschlossenen System vermittels einer Kraft, die kein Verfassungsentwurf automatisch als "immanenten Zweck" in sich bergen könnte. Die Existenz der politischen Partei ist ein erstrangiger Faktor, ihre bloße Organisationsform tritt weit hinter ihren Inhalt zurück, ihr Bewußtsein und ihr sich in die Tat umsetzender Wille erlauben, die Arbeit in Gang zu setzen, die durch die Notwendigkeiten eines langen und kontinuierlich fortschreitenden Prozesses bestimmt ist. Sie ist das Organ, das den Merkmalen einer homogenen und in einheitlicher Richtung handelnden Gemeinschaft am nächsten kommen kann. Auch wenn sie nur eine Minderheit umfaßt, sind die Faktoren, die sie gegenüber allen anderen, auch auf breitester Basis gegründeten Vertretungsorganen aufweist, eben solche, die die Partei als beste Vertreterin der Gesamtinteressen und -bewegungen ausweisen. In der politischen Partei verwirklicht sich die kontinuierliche Beteiligung aller ihrer Mitglieder an der Ausführung der gemeinsamen Arbeit, ebenso wie in ihr die Lösungen aller Probleme vorbereitet werden, die der Kampf und der ökonomische Aufbau aufwerfen und deren sich das Gros der Masse erst bewußt wird, wenn sie auftreten. Aus all diesen Gründen ist klar, daß in einem Vertretungssystem, das nicht eines der demokratischen Heuchelei, sondern eines derjenigen Bevölkerungsschicht ist, deren elementare gemeinsame Interessen sie auf den revolutionären Weg drängen, spontan die Mitglieder gewählt werden, die die Partei vorschlägt, zeigt sie sich doch den Erfordernissen des Kampfverlaufs und den Problemen, die man kennen muß, bevor sie auftreten, gewachsen. Wir werden später noch einige Worte dazu sagen, weshalb wir der Partei diese Fähigkeiten nicht einfach infolge ihres besonderen Bildungskriteriums zuschreiben: ihrer Aufgabe als Antriebskraft der revolutionären Aktion einer Klasse kann sie gerecht werden oder auch nicht. Nicht die politische Partei überhaupt, sondern nur eine Partei, die kommunistische, kann die genannte Funktion erfüllen, was nicht heißt, daß sie deshalb von vornherein gegen die tausend Gefahren der Versumpfung und Zersetzung gefeit ist. Die positiven Merkmale, die gewährleisten, daß die Partei auf der Höhe des Kampfes steht, finden sich nicht in ihren Statuten und bloßen Organisationsleitsätzen; durch ihren Entwicklungsprozeß und ihre Teilnahme an den Kämpfen manifestieren sie sich vielmehr in der Herausbildung einer gemeinsamen Richtung, deren Wegweiser gleichermaßen eine Geschichtsauffassung, ein Programm (in dem das gemeinschaftliche Bewußtsein Gestalt annimmt) und eine strenge Organisationsdisziplin sind. Diese Auffassungen sind dem Leser aus den "Thesen zur Taktik" des II. Parteitages der KPI bekannt.

Aber kehren wir wieder zum Charakter des Vertretungssystems in der proletarischen Diktatur zurück. Wir sagten schon, daß die Räte auf den sukzessiven Stufen zugleich beratend-beschließende und exekutive Organe sind und müssen nun noch näher darauf eingehen, welche Aufgaben es sind, bei den die exekutiven Funktionen und Initiativen in Kraft treten, denn diese Aufgaben sind es, die die Entstehung des Systems selbst, ebenso wie die Verhältnisse begründen, die seinen sich ständig entwickelnden, daher elastischen Mechanismus prägen. Wir wollen hier nicht die Frage der endgültigen Form des Vertretungssystems in einer klassenlosen, kommunistischen Gesellschaft untersuchen. Wie sich die verschiedenen Organisationen entwickeln werden, wenn wir uns dieser Gesellschaft nähern, können wir nicht im einzelnen vorhersagen, nur die groben Züge lassen sich überblicken. Die Entwicklung wird sich in Richtung einer Verschmelzung aller politischen, administrativen und ökonomischen Organe vollziehen, während der Staat nach und nach den Charakter eines Zwangsapparates verliert, bis schließlich das Staatswesen selbst (als Herrschaftsinstrument einer Klasse im Kampf gegen die anderen, überlebenden Klassen) abstirbt. Hier wollen wir uns aber nur mit der Anfangsphase der proletarischen Macht beschäftigen, die sich mit der Lage der proletarischen Diktatur in Rußland im Laufe der vergangenen 4½ Jahre vergleichen läßt.

Die proletarische Diktatur hat in ihrer Anfangsphase eine ungeheuer schwierige und komplexe Aufgabe zu erfüllen, die sich in drei Tätigkeitsbereiche einteilen läßt: den politischen, den militärischen und den ökonomischen. Sowohl die militärische Verteidigung gegen die inneren und äußeren Angriffe der Konterrevolution als auch der Wiederaufbau der Wirtschaft auf kollektiven Grundlagen können nur bewältigt werden, wenn alle Kräfte zusammengefaßt und nach einem systematischen und rationalen Plan eingesetzt werden. Obwohl er die Energien der ganzen Masse einsetzt, genauer: gerade um diese Energien bestmöglich einsetzen zu können, zielt dieser Plan auf größte Homogenität in der Gesamttätigkeit hin. Daraus folgt, daß die Organe, die an vorderster Front des Kampfes gegen den äußeren und inneren Feind stehen (die revolutionäre Armee und auch die revolutionäre Polizei), auf einer in den Händen des proletarischen Staates zentralisierten Disziplin und Hierarchie fußen müssen. Auch die rote Armee ist damit eine organisierte Einheit, deren Hierarchie von außen, d.h. von der politischen Führung des proletarischen Staates bestimmt wird, was man auch von der revolutionären Polizei und dem revolutionären Gerichtswesen sagen kann. Die Frage des ökonomischen Apparates, den das siegreiche Proletariat errichten muß, um dem neuen Produktions- und Verteilungssystem seine Basis zu geben, weist komplexere Aspekte auf. Wir können hier nur kurz anmerken, daß das Merkmal, das diesen rationalen Verwaltungsapparat vom Chaos der kapitalistischen Privatwirtschaft unterscheidet, die Zentralisierung ist. Alle Betriebe müssen auf der Grundlage der Ziele eines Produktions- und Verteilungsplans koordiniert und im Interesse der Gesellschaft als Ganzes geleitet werden. Mit dem allmählichen Aufbau des neuen Wirtschaftsapparates, aber auch infolge der Krisen, die in einer solchen Umwälzungsperiode unvermeidlich von politischen und militärischen Kämpfen begleitet werden, verändern sich andererseits ständig sowohl das Wirtschaftsgefüge als auch die jeweilige Stellung der Produzenten.

Was leitet sich aus diesen Betrachtungen ab? Im ersten Stadium der proletarischen Diktatur ernennen die Räte der verschiedenen Stufen zugleich mit den legislativen Körperschaften der höheren Stufen auch die exekutiven Organe der lokalen Verwaltung. Die Verantwortung für die militärische Verteidigung muß allerdings ganz in Händen des zentralen Führungsorgans bleiben, ebenso - wenn auch nicht ganz so absolut - die Verantwortung für die ökonomischen Maßregeln. Die lokalen Organe haben indessen die Funktion, die Massen politisch einzugliedern, was durch deren Mitwirkung an der Ausführung der gefaßten Pläne und durch deren Teilnahme in den militärischen und ökonomischen Organisationen realisiert wird. Damit wird das Terrain dafür geschaffen, daß sich in allen Bereichen des Gemeinwesens die breitestmögliche und kontinuierliche Tätigkeit der Massen entfaltet, deren Energien in den Ausbau der homogenen Organisation, die der proletarische Staat darstellt, zusammenfließen.

Ohne diese Betrachtungen weiter auszuführen, können wir folgendes festhalten: es zeigt sich nicht etwa, daß die Bewegungs- und Initiativmöglichkeiten nach unten hin immer eingeschränkter würden, sondern nur, daß sich ihre Herausbildung und genaue Bindung an die militärischen und ökonomischen Aufgaben der Revolution nicht nach einem formalen Schema festlegen lassen, welches die proletarischen Wählergruppen nach ihrer Zugehörigkeit zur Betriebssparte oder Armeeabteilung einteilen will. Das System funktioniert nicht gemäß der besonderen Neigungen oder Tätigkeitsbereiche der jeweiligen Gruppierungen. Die Kriterien für die Formierung der Wählergruppen an der Basis können empirische sein, ja, sie werden sich sogar von allein nach empirischen Kriterien bilden, wie z.B. dem des gemeinsamen Arbeitsplatzes oder Wohnortes oder der Garnison oder anderer Bereiche des Alltagslebens, ohne daß irgendein Bereich a priori zum Modell erhoben oder umgekehrt als solches verworfen werden kann. Grundlage für die Vertretungsorgane des proletarischen revolutionären Staates bleibt jedoch die territoriale Unterteilung: es wird nach Bezirken gewählt. Keine dieser Ausführungen darf jedoch absolut aufgefaßt werden - womit wir wieder bei unserer These sind, nach der kein Vertretungsschema als Prinzip angesehen werden darf, und nach der die demokratische Mehrheitsentscheidung in ihrer formalen und arithmetischen Bedeutung nur eine Methode unter anderen ist, um das Beziehungsgeflecht der kollektiven Körperschaften untereinander zu regeln. Eine ihr selbst innewohnende Notwendigkeit oder Gerechtigkeit (Ausdrücke, die für uns Marxisten schlechthin sinnlos sind) kann in keiner Hinsicht geltend gemacht werden, zum andern haben wir auch nicht die Absicht, den von uns kritisierten demokratischen Apparat durch einen anderen, seinem Wesen nach fehler- und makellosen Mechanismus zu ersetzen.

VI.

Bisher haben wir einiges zum demokratischen Prinzip gesagt: wie es sich einerseits im bürgerlichen Staat darstellt, d.h. einer Organisation, die behauptet, alle Klassen zu vertreten; andererseits, wie es in den Organisationen einer einzigen Klasse, den proletarischen Körperschaften als Basis des Staates nach dem revolutionären Sieg, gebraucht werden kann. Zum Schluß wollen wir uns noch mit der demokratischen Funktionsweise in der inneren Struktur der proletarischen Organisationen befassen, die bereits vor (aber auch noch nach) der Machteroberung bestehen, also den Gewerkschaften und der politischen Partei.

Wir haben dargelegt, daß es eine wirkliche Organisationseinheit überhaupt nur auf der Basis gleicher Interessen ihrer Mitglieder geben kann. Im Fall der künstlichen Vereinigung aller Klassen in den bürgerlichen Staatsinstitutionen haben wir die demokratischen und Majoritätsverfahren einer Kritik unterworfen, die ihnen jegliche Bedeutung abspricht. Diese Kritik können wir unberücksichtigt lassen, wenn wir das demokratische Verfahren in den Gewerkschaften und der Partei untersuchen, denn ihnen tritt man aus eigenem Antrieb bei, um an einem bestimmten Aktivitätstypus teilzunehmen. Aber auch hier darf man sich nicht durch den willkürlichen Begriff der "Unantastbarkeit" von Mehrheitsentscheidungen irreleiten lassen.

In den Gewerkschaften ist die Identität der materiellen und unmittelbaren Interessen stärker als in der Partei gegeben, daß heißt, die Mitgliedschaft ist innerhalb des jeweiligen Berufsstandes in einem sehr hohen Maße homogen und es widerspricht durchaus nicht dem Charakter der gewerkschaftlichen Organisation, den Beitritt aller Arbeiter eines bestimmten Berufs- oder Industriezweiges zur Pflicht zu machen, was übrigens auch in einer bestimmten Entwicklungsphase des proletarischen Staates der Fall sein kann. Daß auf diesem Gebiet die Quantität der entscheidende Faktor ist und die Stimmenmehrheit eine große Bedeutung hat, steht außer Frage. Abgesehen von diesem eher formalen Gesichtspunkt müssen wir noch die anderen Faktoren in Rechnung stellen, die innerhalb der Gewerkschaften eine Rolle spielen: einerseits die Bürokratie und das Funktionärswesen, unter dessen Kontrolle die Gewerkschaften gelähmt werden, und auf der anderen Seite die kommunistischen Gruppen, die in enger Verbindung mit der Partei agieren, um die Gewerkschaften auf das revolutionäre Terrain zu führen. Wenn die Kommunisten in diesen Kämpfen immer wieder nachweisen, daß die Funktionäre die demokratischen Regeln verletzen und auf die Mehrheitsentscheidungen pfeifen, ist das eine richtige Vorgehensweise, weil wir uns hier den Widerspruch zunutze machen können, daß die rechten Gewerkschaftsführer ständig ihre demokratische Gesinnung hervorkehren - genauso machen wir es in bezug auf den Wahlbetrug und Auszählungsschwindel der Liberalen, ohne je die Illusion zu wecken, Wahlen könnten, auch wenn sie korrekt durchgeführt werden, die Not des Proletariats beseitigen. Es ist richtig, solche Widersprüche auszunutzen, weil wir in den Momenten, in denen die Massen aufgrund der wirtschaftlichen Lage in Bewegung geraten, den Einfluß der revolutionären Gruppen auf Kosten der Funktionäre ausdehnen können, deren Einfluß nicht-proletarisch ist und, wenn auch nicht formell, von Klassen und Kräften herrührt, für die die gewerkschaftliche Organisierung fremd ist. Aber dieses Vorgehen heißt nicht, daß wir hier auf einen wahren Demokratismus pochen würden. Wenn die Kommunisten von den Massen verstanden werden und ihnen zeigen können, im Sinne ihrer tieferen Interessen zu handeln, dann dürfen und müssen sie die demokratischen Gewerkschaftsregeln bald benutzen bald brechen. Da also nicht die Demokratie das Kriterium ist, gibt es z.B. auch keinen Widerspruch zwischen folgenden taktischen Haltungen: solange das Minderheitenrecht in den Satzungen festgeschrieben ist, werden wir in den Führungsorganen eine Minoritätenvertretung wahrnehmen; sobald wir die Gewerkschaften erobert haben, werden wir diesen Satzungspunkt streichen, um die Handlungsfähigkeit der Exekutivorgane zu steigern. Unser Wegweiser in dieser Frage gründet sich auf die genaue Analyse des Entwicklungsverlaufs der Gewerkschaften in der heutigen Phase, und die Folgerung aus dieser Einschätzung ist, die Umwandlung von Organen der konterrevolutionären Beeinflussung in Organe des revolutionären Kampfes voranzutreiben. Die inneren Organisationsregeln sind nicht selbst von Bedeutung, sondern nur soweit sie diesem Ziel nutzen.

Uns bleibt noch, die Parteiorganisation zu untersuchen, über deren Merkmale wir schon einiges gesagt haben, als wir uns mit der organisatorischen Struktur des Arbeiterstaates befaßten. Ausgangspunkt der Partei ist nicht eine so vollkommene Gleichheit der unmittelbaren Interessen wie im Falle der Gewerkschaften, andererseits beruht ihre Einheit auf einer so viel breiteren Grundlage, wie es die Klasse im Vergleich zu einem Berufsstand ist: nicht nur im räumlichen Sinne, insofern die Partei die gesamte Klasse darstellt und schließlich international sein wird, sondern genauso im zeitlichen Sinne, insofern sie das spezifische Organ ist, dessen Theorie und Praxis der Spiegel dessen ist, was die verschiedenen Phasen des proletarischen Emanzipationsprozesses kennzeichnen muß, um seinen Sieg zu sichern. Diese uns allen bekannten Aussagen machen zwingend, bei der Untersuchung der Fragen der inneren Parteiorganisation und -struktur stets ihren gesamten Entstehungs- und Lebensprozeß im Zusammenhang mit ihren komplexen Aufgaben festzuhalten. Wir können am Schluß dieser bereits längeren Arbeit nicht auf die Einzelheiten der Verfahrensweise eingehen, wie der Befragung der ganzen Mitgliedschaft, der Aufnahmeverfahren, der Ernennung der verschiedenen Posten usw. Zweifellos gibt es bisher nichts Besseres, als sich zumeist an das Mehrheitsprinzip zu halten. Wir bleiben aber dabei, daß es keinen Grund gibt, diese demokratischen Regeln zum Prinzip zu erheben. Neben der Aufgabe der Entscheidungsfindung - vergleichbar mit der Legislative des Staatsapparates - hat die Partei eine Exekutivfunktion, die in den entscheidenden Phasen des Kampfes der Aufgabe einer Armee analog ist, d.h. ein Höchstmaß an Disziplin gegenüber der Führungsorganen verlangt. Im komplizierten Prozeß, der zur Bildung der kommunistischen Parteien führte, ist ihre hierarchische Gliederung eine reale und dialektische Tatsache, die tiefgreifende Ursachen hat und der gesamten Reihe der Erfahrungen und der Erprobung ihres Mechanismus entspricht. Wir dürfen aber die Mehrheitsentscheidung in der Partei nicht so auffassen, als sei sie a priori das Beste, was uns passieren kann, als sei sie ein himmlischer Richter, der der Menschheit ihre Führer sendet, was vielleicht diejenigen glauben, die auch die Anwesenheit des Heiligen Geistes an der Konklave für wahr halten. Sogar in einer Organisation wie der Partei, deren Mitgliedschaft schon infolge des freiwilligen Beitritts und der Aufnahmebedingungen das Resultat einer Auswahl ist, bedeutet das Urteil der Mehrheit noch nicht der Weisheit letzter Schluß: erst wenn den Mehrheitsbeschlüssen auch die kollektive und einheitlich orientierte Arbeit folgt, kann die Schlagkraft der Exekutivorgane wirklich gestärkt werden. Daß das Majoritätsprinzip durch ein anderes Verfahren ersetzt werden muß, und durch welches, werden wir jetzt nicht zur Diskussion stellen und auch nicht näher untersuchen. Daß sich eine solche Organisation immer mehr von den Traditionen des demokratischen Prinzips freimachen kann, ist natürlich wünschenswert. Wenn sich daher zeigen sollte, das andere Entscheidungs-, Wahl- und Lösungsfaktoren den realen Erfordernissen der Entwicklung und dem Kampf der Partei mehr entsprechen, darf man nicht aus alten Ängsten und Widerständen heraus davor zurückschrecken, sie anzunehmen.

Beim Aufbau unserer inneren Organisation und unserer Parteistatuten ist das demokratische Kriterium für uns bislang ein Behelfsmittel, keine unerläßliche Grundlage. Eben deshalb würden wir die bekannte Organisationsformel des "demokratischen Zentralismus" nicht zum Prinzip erheben. Die Demokratie kann für uns kein Prinzip sein, während der Zentralismus dies zweifellos ist, da das wesentliche Merkmal der Partei die Einheit in der Struktur und Bewegungsrichtung sein muß. Für die räumliche Kontinuität der Parteistruktur steht der Begriff des Zentralismus und um die wesentliche zeitliche Kontinuität (d.h.: Ziel und Richtung, die einzuschlagen sind, um die sukzessiven Hindernisse zu überwinden) begrifflich zu fassen, genauer: um die räumliche und zeitliche Einheit zu verdeutlichen, würden wir vorschlagen, daß Fundament der kommunistischen Parteiorganisation als "organischen Zentralismus" zu kennzeichnen. Obschon wir vom demokratischen Behelfsverfahren das beibehalten, was uns nützen kann, könnten wir den Begriff "Demokratie" doch ad acta legen, an dem den übelsten Demagogen so viel liegt, und der für alle Ausgebeuteten, Unterdrückten und hinters Licht Geführten nur ironisch klingt. Es wäre ratsam, den Begriff den Bourgeois wie den liberalen Helden, die sich zuweilen in radikalen Posen gefallen, zum exklusiven Gebrauch zu überlassen.

Source Rassegna Comunista, Nr. 18, 28. Februar 1922
Author Amadeo Bordiga
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