Das faschistische Programm

Gleichzeitig mit dem von der Führung in Mailand ausgearbeiteten Manifest der faschistischen Partei veröffentlichte die faschistische Tageszeitung auch einen Artikel, der - wie eine Reihe weiterer Artikel - der von vielen Seiten vorgebrachten Beschuldigung entgegentreten sollte, die faschistische Bewegung habe weder ein Programm noch eine Ideologie oder Doktrin. Der Duce antwortet diesem Chor von Vorwürfen ein wenig gereizt: Ihr fordert ein Programm von uns? Ihr fordert es von mir? Meint ihr denn nicht, daß ich es in meiner Rede in Rom schon formuliert habe? Und er pariert den Hieb mit einem Argument, das einer gewissen polemischen Wirkung nicht entbehrt: Haben denn die politischen Bewegungen, die sich in ihrer Erwartung eines faschistischen Programms enttäuscht sehen, selbst überhaupt ein Programm, das diesen Namen verdienen würde? An diesem Punkt angelangt, muß man zwei Tatsachen festhalten: Erstens, daß die bürgerlichen und kleinbürgerlichen Parteien gerade deshalb vom Faschismus ein Programm erwarten, weil sie selbst keines haben, und zweitens, daß man der faschistischen Bewegung nicht das Fehlen eines Programms zum Vorwurf machen kann, denn gerade diese Programmlosigkeit stellt ein wichtiges Element dar, um ihr Wesen zu verstehen und zu bestimmen.

Der Chefredakteur der faschistischen Tageszeitung (die jedoch nicht das offizielle Organ der faschistischen Partei zu sein scheint) möchte sich über seine Gegner stellen: der Faschismus habe deshalb keine programmatischen Richtlinien und theoretischen Grundsätze, weil er an die modernste Richtung des philosophischen Denkens, nämlich die Relativitätstheorie, anknüpfe. Diese habe mit der Geschichtsauffassung, nach der die Geschehnisse bestimmten Gesetzmäßigkeiten folgen, reinen Tisch gemacht und der "schaffenden Kraft" die ihr zustehende absolute Geltung verschafft (und plötzlich, zum Teufel auch mit der Philosophie, haben wir etwas nicht Relatives, sondern Absolutes, nämlich den Aktivismus, den Pragmatismus – obgleich er doch direkter Ableger des Relativismus ist!).

Man könnte sich über die Entdeckung des Duce nun einfach lustig machen: schon seit Jahren macht er nichts anderes als intuitiv (!) Relativismus zu betreiben; bliebe noch zu fragen, welcher Gauner des politischen Geschäfts sich denn nicht mit der Devise des "praktischen Relativisten" geschmückt hätte.

Aber Scherz beiseite. Der Gebrauch des Relativismus, Skeptizismus und Pragmatismus in der Politik ist alles andere als neu, sondern ein oft benutzter ideologischer Notbehelf. Auf die Gefahr hin, in unseren furchtbar altmodischen historischen Materialismus zu geraten, suchen wir die objektive Ursache dieses Phänomens dennoch in der Notwendigkeit der Verteidigung der herrschenden Klasse. Da sie unfähig geworden ist, sich einen Weg vorzuzeichnen, d.h. nicht nur eine Auffassung vom Ablauf der Geschichte, sondern auch eine Gesamtheit von Aktionsrichtlinien festzulegen, und gleichzeitig das Zukunftsbild, das andere soziale Kräfte in ihrer revolutionären Angriffslust von ihrem Weg haben, zu verscheuchen, holt sie die bankrotte Philosophie des universellen Skeptizismus wieder hervor, ein sicheres Zeichen für Epochen des Verfalls.

Lassen wir die von Einstein entwickelte physikalische Theorie der Relativität gleich beiseite. Welche Anwendung sie in der jüngsten intellektuellen Mode und in den Salons, wo man Philosophie diskutiert, gefunden hat, wissen wir nicht, und wahrscheinlich weiß auch Einstein, der mit der revolutionären proletarischen Bewegung sympathisiert, nur sehr wenig davon.

Die Anwendung seiner Theorie auf die Politik und Geschichte unseres unglückseligen Planeten würde sowieso keine spürbaren Auswirkungen haben. Wenn man bedenkt, daß sie die Zeit relativ zur Lichtgeschwindigkeit berechnet und daß die Zeit, die ein Lichtstrahl braucht, um die längsten meßbaren Entfernungen auf unserem Planeten zu durchlaufen, weniger als ein zwanzigstel Sekunde beträgt, dann versteht man, daß sich der Ablauf der irdischen Ereignisse aufgrund dieser Theorie nicht ändern würde. Was kümmert es uns zu wissen, ob Mussolini seit 10 Jahren aus dem Gefühl heraus Relativismus betreibt oder seit 10 Jahren und einer zwanzigstel Sekunde?

Aber, wie wir schon sagten, die Anwendung des philosophischen Relativismus und Aktivismus in der Politik und sozialen Praxis ist eine alte Geschichte und ganz einfach ein Zeichen von praktischer Ohnmacht. Die einzige logische Anwendung derartiger Lehren auf das gesellschaftliche Leben betrifft die subjektive und individuelle Anmaßung. Wenn die Programme für eine Reformierung und Revolutionierung des gesellschaftlichen Mechanismus zusammenbrechen, dann zerfallen auch die großen gesellschaftlichen Organisationen: was übrig bleibt, ist die Tat einzelner oder höchstens die Aktion kleiner, unabhängiger Gruppen, die über sehr viel Initiative verfügen.

Die beiden wohlbekannten Formen der Revision des revolutionären Marxismus, der Reformismus und der Syndikalismus, hatten sich logischerweise den Skeptizismus und den Relativismus zu eigen gemacht. Schon lange vor Mussolini sagte Bernstein, daß das Ziel nichts und die Praxis, die Bewegung alles sei. Und als man versuchte, dem Proletariat seine Orientierung auf ein Endziel zu nehmen, hieß das, ihm die einheitliche Auffassung von der Klasse als einer um ein gemeinsames Ziel kämpfenden Klasse zu nehmen, man reduzierte also den Sozialismus auf die Praxis verschiedener Gruppen, die mit einer unbegrenzten Bandbreite von Methoden für unmittelbare Augenblicksziele kämpfen: das ist jene "Beweglichkeit", die heute vom Duce beschworen wird. Auf der Grundlage einer solchen ideologischen Haltung ist auch der Syndikalismus entstanden. Die relativistische Kritik scheint der Auffassung zu sein, daß die Theorie, die der proletarischen Klasse die Einheit ihrer Bewegung in Raum und Zeit erklärt, ein alter Hut ist, tausendmal widerlegt und begraben. Aber diese Kritik, die sich Tag für Tag als "neu" präsentiert, ist selbst nur eine olle kleinbürgerliche Kamelle. Sie ähnelt dem eleganten religiösen Skeptizismus der letzten Aristokraten, die am Vorabend der großen bürgerlichen Revolution nicht mehr die Kraft hatten, für die Erhaltung ihrer Klasse zu kämpfen. In dem einen wie in dem anderen Fall haben wir Symptome der Agonie vor uns.

Der Faschismus jedoch hat dem wahren Wesen seiner Bewegung nach keinerlei Recht, sich auf den Relativismus zu berufen. Ganz im Gegenteil könnte man sagen, daß er die letzten Anstrengungen zum Ausdruck bringt, die die heute herrschende Klasse unternimmt, um sich sichere Verteidigungslinien zu schaffen und gegen die revolutionären Angriffe ihr Recht auf Leben zu verkünden. Also doch eine Geschichtsauffassung, wenn auch eine negative. Der Faschismus verfügt über eine Organisation von unbestreitbarer Festigkeit, er stellt die Organisation all derjenigen Kräfte dar, die jetzt verzweifelt die vor langer Zeit theoretisch behaupteten Stellungen nur noch praktisch verteidigen. Aus diesem Grunde tritt der Faschismus, wie wir bereits in einem unserer Artikel sagten, nicht als Träger eines neuen Programms, sondern als eine Organisation auf, die für ein uraltes Programm kämpft, nämlich das des traditionellen bürgerlichen Liberalismus.

Der scheinbare Agnostizismus, den das Manifest der faschistischen Partei gegenüber dem Staat zum Ausdruck bringt, kann und darf einen nicht täuschen. Wenn es am Ende des Manifests heißt, auch der Begriff des Staates sei für das faschistische Denken und die faschistische Methode keine "feste Kategorie", ist das nur eine sinnlose Wortspielerei. Der Faschismus setzt den Staat und seine Funktion zu einer neuen absoluten Kategorie in Beziehung, deren Absolutheitsanspruch nicht weniger dogmatisch als irgendeine andere ist: die "Nation". Anstelle des Staates schreibt der Faschismus die Nation groß.

Daß nationaler Wille und nationale Solidarität keine "geschichtlichen" und "demokratischen" Ausdrücke sein sollen, müßten uns die Philosophen des Faschismus schon beweisen. Und sie müßten hierzu schon über eine Lehre oder kritische Methode verfügen, die in der Lage wäre, uns den genauen Unterschied zwischen ihrem höchsten Prinzip, der Nation, und dem gegenwärtigen realen Staatssystem zu erklären.

In Wirklichkeit entspricht der Begriff der "Nation" ganz dem bürgerlichen und demokratischen Begriff der Volkssouveränität, die angeblich im Staate zum Ausdruck kommen soll. Der Faschismus hat also nichts anderes getan, als die Begriffe des Liberalismus zu übernehmen, und wenn er auf den kategorischen Imperativ der Nation zurückgreift, so bringt dies nur ein weiteres Mal den klassischen Schwindel zum Ausdruck, der die Übereinstimmung von Staat und herrschender kapitalistischer Klasse zu verschleiern sucht. Selbst eine oberflächliche Kritik zeigt, daß die Nation des faschistischen Manifests erstens sehr wohl eine "Kategorie" ist, die in der Ideologie einen so absoluten Wert hat, daß in der Praxis derjenige, der gegen sie zu lästern wagt, zum Sühneopfer... der Prügelstrafe verurteilt ist; zweitens, daß diese Nation nichts anderes als die Bourgeoisie und ihre zu verteidigende Herrschaft darstellt. Also die "Gegenkategorie" zur proletarischen Revolution.

Zahlreiche kleinbürgerliche, pseudorevolutionäre Allüren zeigende Bewegungen, die heute alle, so paradox dies klingen mag, zum Faschismus neigen, schmücken sich mit dem zweideutigen Beinamen "national".

Warum wird die Nation gerade durch die faschistischen Freiwilligenmilizen repräsentiert und nicht durch die unorganisierten oder in anderen Minderheiten organisierten Masse, die ja der natürliche Feind dieser Freiwilligenmilizen ist? Dies müßte für immer unverständlich bleiben, wenn wir den Begriff der Nation nicht derselben marxistischen Kritik unterziehen würden, die uns zu der Feststellung führt, daß der bürgerliche Staat, während er im Namen aller spricht, die Organisation einer Minderheit ist, die für eine Minderheit, nämlich die Bourgeoisie, handelt. Die Tatsache, daß neben der Staatsorganisation noch die mächtige Organisation der faschistischen Freiwilligenmiliz besteht, heißt nicht daß diese Bewegung unabhängig ist, sondern stellt nur eine Aufgabenteilung dar, die dem Verteidigungsbedürfnis der konterrevolutionären Klasse entspricht. Weil sich der Staat das Recht vorbehalten muß, als demokratischer Ausdruck der Interessen aller zu gelten, entsteht diese Miliz außerhalb des Staates. Und ihrerseits wagt es die Miliz so wenig, sich gemäß den Philosophien, mit denen sie sich schmücken möchte, zu gebärden, d.h. sich als Elite darzustellen, daß sie ihr Programm auf einen vagen "Nominalismus" beschränkt, der außerdem, ob im klassischen oder gemeinen Sinn, die Eigenschaft hat, demokratisch zu sein: die Nation.

In den schwachen und auf die Niederlage gefaßten bürgerlichen Schichten, an deren Zerrüttung der Zusammenbruch des bürgerlichen Denkens und der bürgerlichen Kraft abgelesen werden kann, hat der Relativismus die Oberhand gewonnen. Die einheitliche Organisation aber, die die letzten Kampfreserven der Bourgeoisie zusammenfaßt und militärisch organisiert, zeigt, daß sich alle noch zum Zusammenschluß fähigen Kräfte der Vergangenheit nicht um ein Programm für die zukünftige Geschichte scharen – weil keine bürgerliche Strömung und auch nicht der Faschismus ein solches Programm finden kann. Sie sammeln sich, weil sie dem instinktiven Entschluß gehorchen, die offensive Verwirklichung des revolutionären Programms zu verhindern. Wäre unser Programm auf kritisch-theoretischer Ebene von den neuen, verführerischen Thesen, die den Artikeln des faschistischen Führers ihren Glanz verleihen, geschlagen worden, und würde es nicht als Gefahr angesehen, die sich morgen in die Tat umsetzen kann, dann könnte der Duce seine Schwarzhemden nach Hause schicken und im Namen der relativistischen und aktivistischen Philosophie jene starre Disziplin aufheben, der er sie erklärtermaßen immer mehr unterwerfen muß.

[Kommunistisches Programm, Nr. 23, Oktober 1979]

Source Il Comunista, Nr. 39, 27. November 1921
Author Amadeo Bordiga
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