Der Faschismus

Dreiundzwanzigste Sitzung des V. Weltkongresses der KI am 2. Juli 1924

WYNKOOP: Die Sitzung ist eröffnet. Das Wort zum Referat übe den Faschismus hat der Genosse Bordiga. Nach den Referaten der Genossen Bordiga und Freymuth wird, wie der Kongreß bereits beschlossen hat, keine Debatte stattfinden.

BORDIGA: Über das Thema des Faschismus habe ich bekanntlich auf dem 4. Kongreß, an einem entscheidenden Wendepunkt der Geschichte des Faschismus in Italien, Bericht erstattet. Es war am Vorabend der Eroberung der Macht durch den Faschismus, daß ich mit unserer Delegation Italien verlassen hatte.

Heute muß ich zum zweitenmal über dieses Thema sprechen; wiederum im Augenblick einer Wendung, die für die Entwicklung des Faschismus entscheidend ist und die, wie ihr wißt, durch den Fall Matteotti hervorgerufen wurde. Der Zufall hat gewollt, daß dieses Ereignis wiederum unmittelbar nach der Abreise der italienischen Delegation zum 5. Kongreß eintrat. Die zwei Berichte fallen also in beiden Fällen in einen Zeitpunkt, der geeignet ist, das äußerst bedeutsame soziale und politische Phänomen des Faschismus klar zu beleuchten.

Natürlich werde ich hier nicht alles das wiederholen, was ich in meinem ersten Bericht über die historische Entwicklung des Faschismus ausführte. Ich muß auf zu viele andere Punkte eingehen. Ich werde deshalb nur ganz kurz an die grundlegenden Ideen meiner damaligen Kritik des Faschismus erinnern. Ich werde das auf schematische Weise tun, denn ich kann hier voll und ganz das aufrechterhalten, was ich damals dem 4. Kongreß vorgetragen habe.

Erstens: Die Entstehung des Faschismus.

Ich habe daran erinnert, daß die faschistische Bewegung ihrem historischen Ursprung nach verknüpft ist mit einem Teil jener Gruppen, die den Eintritt Italiens in den Weltkrieg forderten. Es gab mehrere Gruppen, die eine derartige Politik unterstützten. Unter ihnen bestand eine äußerste Linke, die sich aus Renegaten des Syndikalismus, des Anarchismus und in einigen Fällen - hauptsächlich im Falle Mussolinis - aus Renegaten der extremen Linken des Sozialismus zusammen setzte. Diese Gruppe hatte sich vollständig mit der Politik des Burgfriedens und der militärischen Intervention gegenüber den Zentralmächten identifiziert.

Sehr charakteristischerweise war es diese Gruppe, die, dem Nachkriegsfaschismus seinen Generalstab stellte. Man kann in lückenloser Folge die Zusammenhänge zwischen dieser ersten politischen Gruppierung und der großen faschistischen Bewegung, der wir uns heute gegenüber befinden, verfolgen.

Das Geburtsdatum der klassischen faschistischen Aktion ist der November des Jahres 1920: es ist in den damaligen Vorgängen in Bologna (Palazzo d'Accursio) zu suchen. Ich verlasse jedoch diesen Punkt, da es sich dabei um rein historische Feststellungen handelt, und gehe zu andern Tatsachen über.

Die Regierungskrise in Italien ist in folgender Weise charakterisiert worden: Der Faschismus stelle die politische Negation derjenigen Periode dar, während welcher eine bürgerlich-liberale und demokratische Linkspolitik bei uns vorherrschte. Der Faschismus sei die schärfste Form der Reaktion gegen die Politik der Konzessionen, die die Giolitti usw. in der Nachkriegszeit durchführten.

Wir sind im Gegenteil der Ansicht, daß zwischen diesen beiden Perioden ein dialektischer Zusammenhang besteht: daß die anfängliche Haltung der italienischen Bourgeoisie während der Krise, in die die Nachkriegszeit den Staat stürzte, nichts als die natürliche Vorbereitung auf den Faschismus war. Während dieser Periode drohte eine Offensive von seiten des Proletariats. Die Kräfte der Bourgeoisie reichten nicht aus, um einem direkten Angriff die Stirne zu bieten. Sie mußte sich deshalb geschickter Manöver bedienen, um dem Zusammenprall auszuweichen, und während diese Manöver durch die Politiker der Linken durchgeführt wurden, konnte der Faschismus seine späteren ungeheuren Machtmittel vorbereiten, konnte er die Voraussetzungen für die zweite Periode schaffen, in der er selbst die Offensive ergriff, um die revolutionären Kräfte vernichtend zu schlagen. Ich wiederhole hier nicht alle Argumente, die für diese Auslegung sprechen. Auch hier gilt noch alles das, was ich auf dem 4. Kongreß ausführte.

Noch eine Tatsache. Der Faschismus nimmt seinen Anfang in den landwirtschaftlichen Distrikten. Das ist äußerst charakteristisch. Der Angriff auf die Positionen des revolutionären Proletariats nimmt von den bäuerlichen Distrikten seinen Ausgang. Bologna ist ein landwirtschaftliches Zentrum, es ist die Hauptstadt eines großen ländlichen Gebietes: der Po-Ebene, und von dort aus war es, daß der Faschismus seinen Siegeszug durch ganz Italien antrat. Er breitete sich nach verschiedenen Richtungen hin aus. In unserm ersten Bericht haben wir diesen Siegeszug geographisch aufgezeigt. Hier genügt es, daran zu erinnern, daß der Faschismus die Industriezentren und die Großstädte erst in zweiter Linie angreift.

Aber wenn es auch wahr ist, daß die Aktion des Faschismus in den nichtindustriellen Gebieten beginnt, so darf man doch daraus nicht den Schluß ziehen, daß die faschistische Bewegung ausschließlich durch die Interessen der ländlichen Bourgeoisie, der Großgrundbesitzer, hervorgerufen sei. Ganz im Gegenteil: Hinter dieser Bewegung stehen auch die Interessen der Großindustrie, des Großhandels und der Finanzmagnaten. Sie bedeutet den Versuch eines einheitlichen konterrevolutionären Vorstoßes aller bürgerlichen Mächte. Auch diese These halte ich aufrecht. Ich werde noch mehrmals im Laufe des Berichtes auf sie zurückkommen.

Hinzu kommt die Tatsache der Mobilisierung des Mittelstandes.

Auf den ersten Blick erweckt der Faschismus seinem äußeren Anschein nach den Eindruck, daß es sich nicht um eine Bewegung der erwähnten sozialen Oberschichten: der Großgrundbesitzer und der kapitalistischen Großbourgeoisie handelt, sondern vielmehr um eine Bewegung des Mittelstandes, der Kriegsteilnehmer, der Intellektuellen sowie aller jener Schichten, die das Proletariat noch nicht in seinen Bannkreis zu ziehen und unter der Parole der revolutionären Diktatur um sich zu sammeln vermocht hat.

Innerhalb dieser ganzen Schichten ist eine gewaltige ideologische, politische und organisatorische Mobilisation vor sich gegangen. Ihre Unzufriedenheit ist organisiert worden. Man sagte ihnen: Ihr seid die dritte Klasse, die das Kampffeld betritt, das heißt, eine neue Macht, die sich gegen das Proletariat wendet, aber auch gegen die alte Bourgeoisie und ihre klassischen Politiker. Während der Krise der Nachkriegszeit war es dem Proletariat nicht gelungen, seine revolutionäre Politik durchzuführen und die Macht zu ergreifen, die die alte herrschende Klasse nicht mehr festzuhalten vermochte. Nun tritt eine dritte Klasse in den Kampf ein. Das ist der äußere Anschein, den der Faschismus erweckt. In Wirklichkeit handelt es sich um eine Mobilisierung des Mittelstandes auf Initiative und unter Führung der konservativen Mächte der Großbourgeoisie, unter Mithilfe des Staatsapparates. Deshalb das doppelte Gesicht des Faschismus: In erster Linie handelt es sich um eine Verteidigung der großbürgerlichen Interessen, d. h. der Interessen der Oberklasse, und in zweiter Linie um eine Mobilisierung des Mittelstandes, d. h. der bedeutsamen sozialen Kräfte der Mittelschichten zur Verteidigung jener Interessen.

In meinem früheren Bericht habe ich die Ideologie des Faschismus kritisiert. Ich habe gefragt: Auf welcher Theorie baut diese Bewegung sich auf? Heute ist es zum Gemeinplatz geworden, daß der Faschismus keine Theorie besitzt. Er hat auch nicht das geringste getan, um die Grundzüge einer neuen politischen Theorie zu schaffen. Er behauptet, die Revolution durchgeführt, dem sozialen und politischen Kampf ein neues Gesicht gegeben zu haben. Aber tatsächlich hat er vom theoretischen Standpunkt aus nicht das geringste geschaffen, was als konstruktive Basis für das Programm dieser Revolution, dieser angeblichen Erneuerung der italienischen Gesellschaft an Haupt und Gliedern - und wie Mussolini sagt, vielleicht morgen auch der Gesellschaft der andern Länder - dienen könnte.

Tatsache ist, daß der Faschismus zu Anfang ein Programm besitzt, das den Programmen der äußersten Linken eine Anzahl Punkte entleiht. Aber dieses Programm dient ausschließlich den Erfordernissen der Mobilisierung, die wir schon erwähnt haben; es wird schnell vergessen, ja, in sein direktes Gegenteil verkehrt, sobald der Faschismus ans Ruder gelangt; in diesem Augenblick zerfällt sein Programm der Erneuerung in nichts.

Der Faschismus ist keine revolutionäre Bewegung; es handelt sich um eine rein konservative Bewegung zur Verteidigung der bestehenden bürgerlichen Ordnung, er bringt keinerlei neues Programm. Wohl aber bringt er etwas Neues, sobald wir vom ideologischen auf das organisatorische Gebiet übergehen. Wir müssen dann sofort feststellen, daß hier etwas in Erscheinung tritt, das weder die Bourgeoisie Italiens, noch auch die der andern Länder bisher angewendet hat. Die Politik der italienischen Bourgeoisie war gekennzeichnet durch die Tatsache, daß sie wohl große politische Führer, Berufspolitiker, bedeutende Parlamentarier, die bei den Wahlen eine große Anhängerschaft hatten, aufwies, daß sie wohl eine große liberale Partei besaß, daß ihr jedoch jegliche organisatorische Kraft abging. Die liberale Partei besaß eine klare, konkrete Theorie; sie hatte sehr bestimmte historische Traditionen und eine vom bürgerlichen Standpunkt aus vollständig ausreichende Ideologie. Es fehlte ihr jedoch die Organisation.

Der Faschismus stellt diese Sachlage vollkommen auf den Kopf. Er bringt ideologisch nichts Neues. Wir werden gleich sehen, welchen Wert seine Kritik der Ideologie der alten bürgerlichen Parteien besitzt. Aber er führt einen neuen Faktor ins Feld, der den alten Parteien vollständig abging: einen gewaltigen Kampfapparat, gewaltig sowohl als politische wie als militärische Organisation.

Das beweist, daß in der augenblicklichen Periode der schweren Krise des Kapitalismus der Staatsapparat zur Verteidigung der Bourgeoisie nicht mehr ausreicht. Dieser Apparat muß durch eine gut organisierte Partei ergänzt werden, die im ganzen Lande arbeitet und sich bemüht, innerhalb des Mittelstandes Stützpunkte zu finden, vielleicht sogar sich gewissen Schichten der Arbeiterklasse zu nähern. Nur durch die Mobilisierung nichtbürgerlicher Klassen vermag die Bourgeoisie es während dieser Krise, der drohenden Revolution die Stirne zu bieten.

Welches sind die Beziehungen zwischen Faschismus und Proletariat?

Der Faschismus ist seiner Natur nach eine antisozialistische und damit eine antiproletarische Bewegung. Vom ersten bis zum letzten Augenblick tritt er auf als Zerstörer selbst der geringfügigsten Errungenschaften der Arbeiterklasse. Dennoch ist der Faschismus nicht ohne weiteres gleichzustellen mit der früheren Reaktion der äußersten Rechten: mit ihrem Belagerungszustand, ihrem Terror, ihren Ausnahmegesetzen und ihrem Verbot der revolutionären Organisationen. Der Faschismus geht darüber hinaus, er ist eine modernere, raffiniertere Bewegung, er versucht gleichzeitig unter den proletarischen Massen Einfluß zu gewinnen. Er bemächtigt sich deshalb, ohne zu zögern, des Grundsatzes der gewerkschaftlichen Organisation; er versucht wirtschaftliche Organisationen der Arbeiterschaft zu gründen.

Es liegt auf der Hand, daß wir diese Gewerkschaften nicht mit den freien Gewerkschaften vergleichen können. Trotzdem muß meiner Ansicht nach festgestellt werden, daß die Tatsache des Bestehens faschistischer Gewerkschaften ein schwerwiegendes Argument gegen den revolutionären Syndikalismus bildet, der in der wirtschaftlichen Organisation die entscheidende Waffe für den Klassenkampf sieht. Die Ereignisse beweisen, daß diese Waffe sehr wohl zu konterrevolutionären Zwecken ausgebeutet werden kann. Selbstverständlich unterscheidet sich die faschistische Gewerkschaftsbewegung von der eigentlichen Gewerkschaftsbewegung durch einen sehr charakteristischen Punkt, nämlich dadurch, daß sie sich nicht nur aus der Arbeiterklasse, sondern aus allen Klassen rekrutiert. Es handelt sich tatsächlich um eine Organisationsform, deren Grundlage der Beruf bildet. Es wird abgezielt auf parallele Organisationen der Arbeiter und der Arbeitgeber auf der Basis der Arbeitsgemeinschaft der Klassen.

Damit sind wir an einem Punkt angelangt wo Faschismus und Demokratie sich begegnen. Der Faschismus wiederholt im Grunde genommen nur das alte Spiel der bürgerlichen Linksparteien und der Sozialdemokratie, d. h. er ruft das Proletariat zum Burgfrieden auf. Er versucht dieses Ziel durch Bildung von Gewerkschaften der Industriearbeiter und der Landarbeiter, die er dann zu praktischer Zusammenarbeit mit der Unternehmerorganisation führt, zu erreichen. Natürlich ist der einzige Zweck dieser ganzen Aktion die Zerstörung der revolutionären Organisationen und die Auslieferung der proletarischen Massen an die Ausbeutung der Kapitalisten. Dennoch wird der Faschismus von seiten der besitzenden Oberschicht nicht als eine brutale Methode zur Unterdrückung der Arbeiterschaft zugegeben; im Gegenteil, er tritt in der Form einer Organisation aller produktiven Kräfte des Landes auf, deren Anerkennung er verlangt, in der Form einer Zusammenarbeit aller wirtschaftlichen Gruppen für das "Nationalinteresse".

Natürlich liegt dem allen die Ausnutzung der nationalistischen patriotischen Ideologie zugrunde. Es handelt sich nicht um etwas völlig Neues. Hauptsächlich während des Krieges ist im nationalen Interesse die Formel der Arbeitsgemeinschaft der Klassen, die Formel der Zurückstellung aller Einzelinteressen gegenüber dem Interesse des ganzen Landes bereits ausgiebig ausgenutzt worden.

Der Faschismus kommt also mit dem alten Programm der bürgerlichen Politik, aber dieses Programm erscheint in einer Form, die in gewisser Hinsicht an das Programm der Sozialdemokratie anklingt, und die etwas durchaus Neues enthält, nämlich eine gewaltige politische und militärische, im Dienste der konservativen Mächte stehende Organisation.

Die Schlußfolgerung, die ich in meiner Rede auf dem 4. Kongreß zog, war die, daß die Basis selbst des faschistischen Programmes bereits einen fundamentalen historischen und sozialen Widerspruch aufweist. Der Faschismus möchte alle wirtschaftlichen und sozialen Konflikte innerhalb der Gesellschaft ausgleichen und zum Stillschweigen bringen. Aber das ist nur der äußere Schein. Tatsächlich versucht er, die Einheit innerhalb der Bourgeoisie herzustellen, eine Koalition zwischen den besitzenden Oberschichten zu verwirklichen, indem er die Einzelkonflikte zwischen den Interessen der verschiedenen Gruppen der Bourgeoisie und der verschiedenen kapitalistischen Unternehmungen ausgleicht.

Auf wirtschaftlichem Gebiet wandelt der Faschismus vollständig auf den alten Bahnen des bürgerlichen Liberalismus: er wendet sich gegen jeden Eingriff des Staates in die Wirtschaft; er predigt die unbeschränkte Bewegungsfreiheit der wirtschaftlichen Unternehmungen; er fordert das freie Spiel der Kräfte, die dem Kapitalismus entspringen. Er verwickelt sich dadurch in einen unlösbaren Widerspruch, denn es ist äußerst schwierig, eine einheitliche Politik der bürgerlichen Klasse zu verwirklichen, solange die wirtschaftlichen Organisationen vollständige Entwicklungsfreiheit besitzen und vollständige Konkurrenzfreiheit zwischen den einzelnen Unternehmergruppen besteht. Wir ziehen daraus den Schluß, daß der Faschismus infolge der wirtschaftlichen Anarchie des Kapitalismus zum Scheitern verdammt ist, obwohl er die Zügel der Regierung fest in die Hand genommen hat, obwohl er über die gewaltige Waffe des Staatsapparates verfügt, und obwohl er sich auf eine über das ganze Land verbreitete Organisation stützt, die den Mittelstand, bis zu einem gewissen Grade sogar das Proletariat für die Interessen der geeinigten Bourgeoisie mobilisiert.

Der gewaltige Apparat des Faschismus kann den Glauben erwecken, daß die faschistische Macht eine dauerhafte sein wird. Aber die Wurzel dieser Macht selbst krankt an einem fundamentalen Widerspruch, denn der Faschismus hat keinerlei neue Mittei zur Überwindung der Krise des Kapitalismus aufgezeigt.

Wir sind nach wie vor der Oberzeugung, daß die kapitalistische Krise nicht durch irgendwelche "heroischen" Mittel überwunden werden kann. Ich habe hier die grundlegenden Gedanken zur Analyse des Faschismus, die ich in meinem ersten Bericht ausführte, und deren einmütige Annahme durch alle Genossen möglich ist, wiederholt; es sind die Schlußfolgerungen, die wir immer gezogen haben, und die durch die nahezu zwei Jahre faschistische Diktatur vollständig bestätigt sind.

Kommen wir jetzt auf die geschichtliche Phase zurück, in der wir uns im Augenblick des 4. Kongresses, als die Faschisten die Macht eroberten, befanden: den Abschluß des Generalangriffs auf die revolutionären Kräfte und auf die alten politischen Machthaber Italiens, den Marsch auf Rom. Ich hatte in jenem Bericht die Streitfrage noch nicht berührt, die während des 4. Kongresses in unsern Reihen entstanden war, aber Genosse Sinowjew erwähnte sie in seiner Rede: Was ereignete sich während unserer Abwesenheit in Italien? Ein Staatsstreich oder eine Komödie? Ich werde auf diese Frage kurz eingehen, ja, meiner Ansicht nach muß man sogar drei Fragen stellen: Stehen wir einer Revolution, einem Staatsstreich oder einer Komödie gegenüber?

Rufen wir uns die Tatsachen ins Gedächtnis zurück, die die Eroberung der Macht durch die Faschisten charakterisierten. Wir hatten keinen bewaffneten Kampf, wir hatten nur eine Mobilisierung des Faschismus, der mit der revolutionären Eroberung der Macht drohte, und wir hatten eine Art defensiver Mobilisierung des Staates, der in einem gegebenen Augenblick sogar den Belagerungszustand erklärte. Aber der Widerstand wurde von seiten des Staates nicht praktisch durchgeführt. Es kam nicht zum bewaffneten Kampf. Anstatt des Zusammenstoßes wurde ein Kompromiß geschlossen, und in einem gewissen Augenblick wurde der Kampf sozusagen vertagt, aufgeschoben, nicht, weil der König sich im gegebenen Moment weigerte, das Dekret über den Belagerungszustand zu unterzeichnen, sondern offensichtlich, weil das Kompromiß schon seit langer Zeit vorbereitet worden war. Die faschistische Regierung hat sich dann auf dem normalen Wege gebildet: Nach der Demission des Kabinetts Facta berief der König Mussolini, um ein neues Ministerium zu bilden. Der Führer dieser sogenannten Revolution kam im Schlafwagen von Mailand nach Rom und wurde unterwegs auf den Bahnhöfen von allen offiziellen Staatsvertretern begrüßt. Von einer Revolution kann nicht die Rede sein, nicht nur, weil ein Aufstand zur Eroberung der Macht fehlt, sondern auch auf Grund alles dessen, was wir über die historische Bedeutung des Faschismus ausgeführt haben. Der Faschismus bedeutet in sozialer Hinsicht keinen Umsturz; er besitzt kein neues Programm, ja, er bedeutet nicht einmal die geschichtliche Verneinung der alten bürgerlichen Regierungsmethode; er bedeutet lediglich die vollkommen logische dialektische Fortsetzung der vorhergehenden Phase der bürgerlichen, sogenannten demokratischen und liberalen Regierungen.

Wir wenden uns absolut gegen die immer wiederholte Behauptung der Faschisten, daß es sich bei ihrer Machtergreifung um eine Revolution handelte.

In seinen Reden sagt Mussolini: Wir haben eine Revolution durchgeführt. Wenn wir ihm jedoch entgegenhalten: Es hat keine Revolution, kein Kampf, kein revolutionärer Terror stattgefunden, denn es fehlte die wirkliche "Eroberung" der Macht und die wirkliche Vernichtung des Gegners, so antwortet Mussolini mit einem in geschichtlicher Hinsicht ziemlich lächerlichen Argument: Dazu bleibt uns immer noch Zeit, wir können immer noch die Revolution vollenden. Aber die Revolution kann man nicht "auf Eis legen", nicht einmal der kühnste und mächtigste politische Führer vermag das. Mit diesem Argument kann man die Kritik, daß die Revolution nicht durchgeführt wurde, nicht widerlegen. Man kann nicht sagen: Diese Tatsachen sind allerdings nicht eingetreten, aber wir können das jeden Augenblick nachholen. Es ist natürlich immer möglich, daß neue Kämpfe entstehen. Der Marsch nach Rom jedoch ist kein Kampf, keine Revolution gewesen. Und wenn man sagt: Es hat doch immerhin ein ungewöhnlicher Wechsel in der Regierungsgewalt, ein Staatsstreich stattgefunden, so will ich hier darauf nicht näher eingehen, denn diese Frage läuft letzten Endes auf ein Wortspiel hinaus. Aber auch mit dem Worte "Staatsstreich" bezeichnen wir einen Wechsel in der Regierung, der sich nicht lediglich auf einen Personenwechsel, lediglich auf eine Änderung im Generalstab der Partei, die an der Macht ist, beschränkt, sondern eine Aktion, die die bisherigen Regierungseinrichtungen auf gewaltsame Weise beseitigt. Das hat der Faschismus nicht getan. Er hat viel gegen den Parlamentarismus geredet, seine Theorie war antidemokratisch und antiparlamentarisch. Im Grunde genommen jedoch war sein soziales Programm nichts anderes als das alte Programm der demokratischen Lügen, das nur eine ideologische Waffe zur Erhaltung der Herrschaft der Bourgeoisie bedeutet. Der Faschismus ist sehr schnell - sogar noch vor Eroberung der Macht - "parlamentarisch" geworden; er hat anderthalb Jahre lang regiert, ohne die alte Kammer aufzulösen, die sich in ihrer großen Mehrheit aus Nichtfaschisten, ja, teilweise aus Antifaschisten zusammensetzte. Mit der Geschmeidigkeit, die ein Kennzeichen der bürgerlichen Politiker ist, hat diese Kammer sich beeilt, sich Mussolini zur Verfügung zu stellen, um seine Stellung zu legalisieren und ihm alle jene Vertrauensvoten zu bewilligen, die es ihm zu verlangen gefiel. Sogar das erste Kabinett Mussolini - Mussolini selbst kommt in seinen "linken Reden" immer wieder darauf zurück - wurde nicht auf rein faschistischer Grundlage gebildet, sondern umfaßte Vertreter der wichtigsten anderen bürgerlichen Parteien. In diesem Kabinett saßen anfangs Vertreter der Partei Giolittis, der Popolari, der demokratischen Linken. Es handelte sich also um ein Koalitionskabinett. Das ist es, was der sogenannte Staatsstreich hervorgebracht hat! Eine Partei, die in der Kammer 35 Abgeordnete zählte, übernahm die Macht und besetzte die große Mehrheit der Minister- und Unterstaatssekretärposten.
Allerdings ist in Italien ein sehr bedeutsames geschichtliches Ereignis zu verzeichnen, aber dieses Ereignis fand nicht während des Marsches auf Rom statt, ich meine die Besetzung ganz Italiens durch die Faschisten, die durch den Gang der Ereignisse vorbereitet war, und die man geographisch verfolgen kann. Die Übernahme der Regierung durch Mussolini war nur die offizielle Anerkennung eines Machtverhältnisses, das sich schon vorher herausgebildet hatte. Jede Regierung, die die Macht übernahm, vor allen Dingen Facta, hatte dem Faschismus freien Spielraum gelassen. Es war der Faschismus, der Italien beherrschte; er hatte völlig freie Hand und hatte den Staatsapparat zu seiner Verfügung. Das Kabinett Facta blieb nur während zweier Monate am Ruder, in Erwartung des Augenblicks, den der Faschismus für geeignet hielt, um auch offiziell die Regierung zu übernehmen.

Aus diesen Gründen haben wir die Bezeichnung "Komödie" gebraucht. Jedenfalls halten wir die Behauptung voll und ganz aufrecht, daß es sich hier nicht um eine Revolution handelt. Es hat allerdings ein Wechsel in den leitenden Kräften der Bourgeoisie stattgefunden, aber dieser Wechsel hat sich allmählich vorbereitet und vollzogen; er bedeutet auf wirtschaftlichem und sozialem Gebiet, ja, sogar auf dem Gebiet der inneren Politik keinen Wechsel im Programm der italienischen Bourgeoisie. Denn die große Stoßkraft der sogenannten Faschistischen Revolution sowohl vor wie nach dem Marsche auf Rom beruht nicht auf dem offiziellen Gebrauch des Staatsapparates, sondern auf der illegalen, wenn auch durch die stillschweigende Mithilfe der Polizei, der Stadtverwaltungen, der Bürokratie und der Armee unterstützten Reaktion. Diese stillschweigende Mithilfe, das muß scharf betont werden, stand jedoch schon vor der Übernahme der Macht durch den Faschismus in voller Blüte.

In seiner ersten Kammerrede hat Mussolini ausgeführt: "Ich habe die Macht, euch auseinanderzujagen und euch mit Hilfe meiner Truppen aus diesem Saale zu treiben. Ich habe die Macht, es zu tun, aber ich tue es nicht. Die Kammer kann weiter ihres Amtes walten, wenn sie bereit ist, mit mir zusammenzuarbeiten.'' Die übergroße Mehrheit der alten Kammer beugte sich willig dem Befehl des neuen Führers.

Tatsächlich kann man feststellen, daß nach der Übernahme der Macht durch den Faschismus keine neue Gesetzgebung eingeleitet wurde. Auch auf dem Gebiet der inneren Politik wurden keine Ausnahmegesetze erlassen. Es haben allerdings politische Verfolgungen stattgefunden, von denen weiterhin noch die Rede sein wird, aber offiziell sind die Gesetze nicht abgeändert, sind keine Ausnahmedekrete erlassen worden wie unter den bürgerlichen Regierungen früherer revolutionärer Epochen, z. B. unter Crispi und Pelluso, die zeitweilig zur Politik des Belagerungszustandes, der Militärgerichtsbarkeit und der Unterdrückungsmaßnahmen gegen die revolutionären Parteien sowie deren Führer ihre Zuflucht nahmen.

Der Faschismus dagegen fuhr fort, gegen die proletarischen Kräfte dieselbe originale und moderne Methode anzuwenden, die er schon vor der Übernahme der Macht gebraucht hatte. Ja, er erklärte sogar, daß seine völlig außerhalb des Staates stehenden Kampfkaders auf gelöst werden würden, sobald die Auflösung der gleichartigen Kaders der andern Parteien erfolge. Die faschistischen Kampfkaders sind zweckmäßigerweise als außerhalb des Staates stehende Organisationen verschwunden, aber nur, um durch die Bildung der "Nationalen Miliz" in den Staatsapparat selbst eingegliedert zu werden. Tatsächlich steht diese bewaffnete Macht nach wie vor der faschistischen Partei und darüber hinaus Mussolini persönlich zur Verfügung. Sie stellt eine neue Organisation dar, die offiziell in den Staatsapparat aufgenommen wird. Sie ist die Hauptstütze des Faschismus. Nach wie vor steht die Frage auf der Tagesordnung: Soll man diese Organisation verschwinden lassen oder nicht? Kann man vom Faschismus verlangen, daß er sich in der inneren Politik verfassungsmäßiger Mittel an Stelle dieses neuen Organs bediene? Selbstverständlich hat der Faschismus bisher diese alten verfassungsrechtlichen Regeln nicht anerkannt, und bis heute ist die Nationale Miliz der furchtbarste Gegner für alle jene, die den Sturz der faschistischen Macht erstreben.

Wir haben auf dem Gebiet der Justiz keine Ausnahmegesetze. Als im Februar 1923 Tausende von Kommunisten in Italien verhaftet wurden, da meinte man, daß der Faschismus mit einer Justizkampagne gegen uns beginnen, daß er scharfe Maßnahmen treffen und die schwersten Urteile verkünden lassen werde. Aber die Lage entwickelte sich sehr günstig. Wir wurden auf Grund der alten, sehr demokratischen Gesetze abgeurteilt. Das italienische Strafgesetzbuch ist das Werk des Vertreters der äußersten bürgerlichen Linken: des Ministers Zanardelli. Es ist äußerst liberal und läßt viele Möglichkeiten offen, vor allem, was politische und ideelle Vergehen angeht, ist es milde und biegsam. Es war für uns deshalb leicht, uns auf folgenden Standpunkt zu stellen: "Wir würden es vollkommen verstehen, wenn der Faschismus sich seiner Gegner entledigte und diktatorische Maßnahmen gegen uns ergriffe. Er hat selbstverständlich vollkommen recht, wenn er uns verurteilt, weil wir Kommunisten sind, und weil unser Ziel der Sturz der bestehenden Regierung durch revolutionäre Aktionen ist; gesetzlich ist jedoch das, was wir tun, nicht verboten. Es sind allerdings andere Dinge verboten, aber ihr besitzt keinen Beweis für die berüchtigte Verschwörung, für die berüchtigte verbrecherische Vereinigung, auf die die Anklage sich stützt." Wir haben nicht nur diesen Standpunkt aufrechterhalten, sondern sind sogar dadurch zur Freisprechung durch die Gerichte gekommen, weil es völlig unmöglich war, uns auf Grund der bestehenden Gesetze zu verurteilen.

Damals konnten wir feststellen, daß der Justiz- und Polizeiapparat vom Standpunkt des Faschismus aus seiner Aufgabe in keiner Weise gewachsen war. Der Faschismus hat sich des Staatsapparates bemächtigt, aber er hat ihn nicht für seine Zwecke umzubilden verstanden. Er hatte nicht die Absicht, sich auf dem Wege des Prozesses der kommunistischen Führer zu entledigen. Er hatte seine eigenen Kaders, seine eigenen terroristischen Organisationen, aber auf dem Gebiet der Justiz glaubte er nicht, neue Waffen anwenden zu müssen. Darin liegt meiner Ansicht nach ein weiterer Beweis für die vollständige Unzulänglichkeit der bürgerlich-liberalen Garantien und einer liberalen Justiz im Kampfe gegen die Bewegungsfreiheit des Proletariats. Es ist wahr, daß unter diesen Umständen auch unsere Verteidigung sich in legalen Bahnen bewegen mußte, aber wenn der Gegner sich im Besitz einer illegalen Organisation, durch die er die Frage ganz anders zu lösen vermöchte, befindet, so verlieren diese demokratischen Garantien für ihn jede Bedeutung.

Der Faschismus führt die alte Politik der linken demokratischen Lügen von der Gleichheit des Rechtes für alle usw. fort. Das soll nicht heißen, daß er nicht zu schweren Verfolgungen gegen das Proletariat schreitet. Ich will damit nur sagen, daß in bezug auf die rein politischen Prozesse, durch die man die Führer der revolutionären Arbeiterschaft vernichten wollte, die neue, durch den Faschismus geschaffene Lage nichts an dem alten klassischen System der bürgerlich-demokratischen Regierungen geändert hat. Eine Revolution dagegen wird immer durch die Umbildung der politischen Gesetze gekennzeichnet.

Ich will mich nunmehr kurz den Ereignissen zuwenden, die seit der Eroberung der Macht durch den Faschismus eingetreten sind.

Vorerst einige Worte über die Wirtschaftslage in Italien. Es ist eine immer wiederholte Behauptung der Faschisten, daß die Wirtschaftskrise der Jahre 1920 und 1921 einer Periode des Gedeihens Platz gemacht habe, seitdem sie die Macht ergriffen. Sie behaupten, daß seit zwei Jahren die Lage stabilisiert, das Gleichgewicht der Wirtschaft wiederhergestellt, die Ordnung neu aufgerichtet sei und die ganze Lage sich bedeutend gebessert habe. Das seien die Vorteile des Faschismus für alle sozialen Klassen, die Wohltaten, die das ganze italienische Volk dem Faschismus verdanke. Diese offizielle Behauptung wird durch eine großzügige Mobilisation der gesamten Presse und durch Anwendung aller Mittel, die einer fest an der Macht befindlichen Partei zur Verfügung stehen, unterstützt. Aber es nichts als eine offizielle Lüge.

Die Wirtschaftslage in Italien ist augenblicklich schlecht. Der Kurs der Lire hat heute den tiefsten Punkt der ganzen Nachkriegszeit erreicht: sie ist nur 4,3 amerikanische Cents wert, d. h. daß der Tiefstand der bisherigen Valutaschwankungen erreicht ist. Der Faschismus hat es nicht vermocht, die Lage zu bessern. Mussolini behauptet allerdings, daß, wenn er nicht da wäre, der Kurs der Lire noch tiefer stünde. Das ist natürlich ein Argument, das nicht ernst genommen werden kann.

Die Faschisten behaupten ferner, daß sie den Staatshaushaltsplan ins Gleichgewicht gebracht haben. Das stimmt in materieller Hinsicht; bekanntlich kann man aber mit Staatsbilanzen alles aufstellen, was man will. Die Faschisten haben jedenfalls die Behauptung der Fachleute der Opposition nicht widerlegt, daß, wenn der Kohlenpreis im Vergleich zu demjenigen der Jahre 1920/21 nicht herabgesetzt, und wenn die Kriegsausgaben, die innerhalb eines gewissen Zeitraumes getilgt werden müssen, nicht rein rechnungsgemäß anders gebucht worden wären, das Defizit heute noch größer wäre als das Defizit der Bilanzen von 1920 und 1921. Das ist zahlenmäßig nachgewiesen worden.

Was den Index der Wirtschaftslage betrifft, so verschlechtert sich heute die Lage ganz allgemein. Die Erwerbslosigkeit allerdings bleibt hinter der gewaltigen Erwerbslosigkeit der Jahre 1920 und vor allem 1921 zurück. Aber die Ziffern der letzten Monate zeigen, daß sie wieder zunimmt und daß die Industriekrise noch nicht endgültig überwunden ist.

Die Geschäftslage ist äußerst gespannt; der Handel stößt auf große Schwierigkeiten. Einen Beleg dafür bietet die Statistik der Konkurse, die eine gewaltige Zunahme im Vergleich zu den letzten Jahren verzeichnet. Auch der Index der Lebensunterhaltskosten ist in den Großstädten im Steigen begriffen. Die ganze Wirtschaftslage in Italien verschlechtert sich zusehends; sie ist in keiner Weise stabilisiert. Es ist nur eine äußerliche Stabilität, die der Faschismus durch den gewaltigen Druck, den die Bourgeoisie ausübt, herbeigeführt hat. Die offiziellen Indexziffern beweisen, daß alles, was erreicht worden ist, nur der Ausdruck dieses furchtbaren, auf das Proletariat ausgeübten Druckes ist; das alles dieses nur auf Kosten des Proletariats und nur im Interesse der herrschenden Klasse erzielt wurde. Und man darf nicht vergessen, daß die Tatsache dieses unerbittlichen Druckes selbst eine Explosion auf seiten jener Klassen voraussehen läßt, die dem Versuch der Faschisten auf Wiederherstellung der Wirtschaftslage im alleinigen Interesse der Großbourgeoisie zum Opfer gebracht worden sind.

Ich komme jetzt zur Haltung der faschistischen Regierung gegenüber dem Proletariat. Ich habe bereits oben ausgeführt, daß die großen, gegen uns anhängig gemachten politischen Prozesse einen Beweis für die Unzulänglichkeit des offiziellen Justizapparates des faschistischen Staates lieferten. Aber es kam zu andern schweren Verfolgungen gegen das Proletariat, sobald man unsere Genossen nicht eines auf Grund des Strafgesetzbuches als "politisch" geltenden Verbrechens, sondern eines "gemeinen" Verbrechens anklagen konnte. Es kam und kommt noch heute zu zahlreichen Zusammenstößen zwischen Faschisten und Proletariern, d. h. in erster Linie Kommunisten; bei diesen Zusammenstößen gibt es gewöhnlich Tote und Verwundete auf beiden Seiten. Es ist allbekannt, daß noch lange Zeit nach der Eroberung der Macht durch den Faschismus den Faschisten, die Arbeiter getötet hatten, selbst wenn erdrückende Schuldbeweise gegen sie vorlagen, vollständige Straffreiheit gewährt wurde. Die Arbeiter dagegen, die in der Selbstverteidigung Faschisten verwundeten oder töteten, wurden zu den schwersten Strafen verurteilt. Die erlassene Amnestie kommt nur jenen zugute, die für nationale Ziele gemeine Verbrechen begingen, das heißt mit andern Worten, es ist eine Amnestie für die faschistischen Mörder, während diejenigen gemeinen Verbrecher, die antinationale Zwecke verfolgen, d. h. die gegen den Faschismus kämpfen, die furchtbarsten Strafen zu gewärtigen haben.

Es ist eine reine Klassenamnestie. Eine weitere Amnestie hat die Urteile, die sich auf zwei bis drei Jahre erstrecken, gemildert; man muß aber wissen, daß unsere Genossen größtenteils zu zehn, fünfzehn und zwanzig Jahren Gefängnis verurteilt worden sind; Hunderte von Arbeitern, von italienischen Genossen befinden sich heute im Gefängnis, weil sie nach bewaffneten Zusammenstößen mit den Faschisten, an denen sie teilnahmen, und zu denen fast immer die Faschisten den Anlaß gaben, nicht rechtzeitig die Grenze überschreiten konnten. Die jetzige italienische Regierung führt auf diese Weise die furchtbarsten Verfolgungen der Arbeiterklasse durch. Die Arbeiterklasse kann nicht einmal den Versuch der Verteidigung gegen den faschistischen Terror machen, ohne daß sofort die Justiz gegen sie eingreift, und zwar in einer Weise, die von den klassischen politischen Prozessen wegen "Landesverrats" abweicht. Auf dem Gebiet der Justiz sind dabei formell nach wie vor alle Garantien für das Bestehen der Kommunistischen Partei, der anarchistischen Bewegung usw. gegeben. In der Theorie ist eben alles möglich.

Ähnlich liegt es in bezug auf die Presse. Offiziell ist die Pressefreiheit in Kraft. Alle Parteien sind befugt, ihre Organe herauszugeben. Aber trotzdem keine gesetzliche Handhabe dafür vorliegt, können die Polizeipräfekten das Erscheinen einer Zeitung verbieten. Bisher ist das nur gegen kommunistische Zeitungen geschehen. Unsere Tageszeitung, der "lavoratore", ist in Triest auf Grund eines österreichischen Gesetzes, das dort noch in Kraft ist, verboten worden. So werden die alten österreichischen Gesetze gegen die Revolutionäre angewendet, d. h. gegen diejenigen, die während des Krieges auf Grund ihres "Defätismus" als Komplizen der Österreicher bezeichnet wurden!

Hinzu kommt das bekannte System der Vernichtung der Zeitungen durch bewaffnete Banden, des Auseinanderjagens der Redaktionen usw., wodurch der proletarischen Presse das Erscheinen unmöglich gemacht wird; ferner die Sabotage des Zeitungsversands usw. Bis zum heutigen Tage werden unsere Zeitungen ebenso wie die übrigen Organe der Opposition, häufig vernichtet oder verbrannt, wenn sie ihren Bestimmungsort erreichen.

Auf die Gewerkschaften wird durch die faschistische Regierung ein furchtbarer Druck ausgeübt. Die Arbeiter werden gewaltsam zum Eintritt in die faschistischen Gewerkschaften gezwungen. Man hat die Gewerkschaftshäuser der roten Verbände zerstört. Dennoch ist es nicht gelungen, die Massen in den faschistischen Wirtschaftsorganisationen zu sammeln. Die Ziffern, die die Faschisten für dieses Gebiet veröffentlichen, sind Bluff. In Wirklichkeit ist heute das Proletariat gewerkschaftlich unorganisiert. Zuweilen leisten die Massen den von faschistischen Gewerkschaften geführten Bewegungen Gefolgschaft, aber nur, weil darin für die Arbeiter die einzige Möglichkeit liegt, überhaupt streiken zu können. Gewisse Arbeiter, gewisse Berufe, die in ihrer großen Mehrheit keine Anhänger der faschistischen Gewerkschaften sind, die bei den Betriebsausschußwahlen in ihrer großen Mehrheit gegen die Faschisten, für die revolutionären Kandidaten stimmen, sind gezwungen, sich zum faschistischen Verband zu bekennen, um auch nur den Versuch des Kampfes gegen die Bourgeoisie machen zu können. Daraus entwickelt sich ein schwerer Konflikt innerhalb der faschistischen Gewerkschaftsbewegung. Sie kann Streiks nicht verhindern. Sie wird in den Kampf gegen die faschistischen Unternehmerorganisationen gedrängt. Dieser Konflikt wird innerhalb der faschistischen und der Regierungsorgane immer zuungunsten der Arbeiter gelöst. So entsteht die Unzufriedenheit, die schwere Krise, die die Führer der faschistischen Gewerkschaftsbewegung in den Versammlungen der letzten Zeit nicht mehr verheimlichen konnten. Ihre Versuche zur Organisierung des Industrieproletariats haben zu einem vollständigen Mißerfolg geführt, ihre Aktion läuft darauf hinaus, einen - überflüssigen - Vorwand zu schaffen, um die Tätigkeit der freien Gewerkschaften zu hemmen und um das Proletariat im Zustand der Desorganisation zu erhalten.

Man hat in letzter Zeit sogar eine Regierungsmaßnahme gegen die freien Gewerkschaften ergriffen: man hat eine offizielle Kontrolle der Staatsgewalt über die innere Verwaltungsarbeit der Gewerkschaften eingeführt. Das ist ein sehr folgenschwerer Schritt, aber er ändert die Lage nicht wesentlich, denn die Arbeit der freien Gewerkschaften war schon auf Grund anderer Maßnahmen nahezu vollständig lahmgelegt.

Die freien Gewerkschaften bestehen noch; die Arbeitskammern, die Berufsverbände, der Gewerkschaftsbund bestehen; aber es ist vollständig unmöglich, ihre heutige Mitgliederzahl anzugeben, selbst dort, wo es ihnen gelungen ist, in Verbindung mit den Massen zu bleiben, denn die ordnungsgemäße Fortführung der Beitragseinziehung und der Werbetätigkeit ist fast vollkommen unterbunden. Es ist bis heute nicht möglich gewesen, die Kaders der gewerkschaftlichen Organisationen in Italien wieder aufzubauen.

Der große Vorzug des Faschismus soll aber gerade darin liegen, daß es keine Streiks mehr gibt. Das ist für die Bourgeoisie und für die Philister des Mittelstandes entscheidend!

Man behauptet, im Jahr 1920, als es keinen Faschismus gab, sah man jeden Tag Arbeitermassen auf der Straße, bald gab es einen Streik, bald eine Demonstration, bald einen Konflikt usw.. Heute gibt es keine Streiks, keine Agitation mehr. In den Betrieben wird ununterbrochen gearbeitet, es herrscht Ruhe und Ordnung. Das ist der Standpunkt der Unternehmer.

Dennoch sind Streiks durchgeführt worden, und während dieser Streiks ist es zu bemerkenswerten Zwischenfällen gekommen, die sich aus dem Verhältnis zwischen faschistischen Gewerkschaften, revolutionären Arbeitern, Regierung und Unternehmern ergaben.

Die Lage ist durchaus nicht stabil. Der Klassenkampf nimmt seinen Fortgang und beweist durch eine Reihe bedeutsamer Erscheinungen sein Vorhandensein; es liegt außer allem Zweifel, daß er sich, allen Hindernissen zum Trotz weiterentwickelt.

Die Aktion der faschistischen Regierung richtet sich auch gegen die Arbeiter der Staatsbetriebe. So wird z. B. gegen die Eisenbahner ein wirklicher Terror ausgeübt. Eine große Anzahl von ihnen ist entlassen worden. Natürlich hat man sich dabei in erster Linie aller aktiven Mitglieder der revolutionären Organisationen entledigt; die Organisation der Eisenbahner gehörte zu den Verbänden, deren Leitung am weitesten links stand. In derselben Weise ist man in einer Reihe anderer vom Staat abhängiger Betriebe vorgegangen.

Die Faschisten erwidern: Wir haben dennoch dem Proletariat eine große Errungenschaft gebracht: den Achtstundentag! Wir haben den Achtstundentag gesetzlich festgelegt! Nennt uns eine andere bürgerliche Regierung, die ein derartiges Gesetz für einen Großstaat erlassen hätte. Dieses Gesetz enthält jedoch Durchführungsbestimmungen, die den Grundsatz des Achtstundentages vollständig wieder aufheben. In der Tat wäre es selbst bei seiner wortgetreuen Durchführung möglich, für die Arbeiterschaft eine den Achtstundentag weit überschreitende durchschnittliche Arbeitszeit durchzuführen.

Außerdem wird aber das Gesetz nicht durchgeführt. Mit Zustimmung der faschistischen Gewerkschaften machen die Unternehmer in den Betrieben, was sie wollen.

Drittens hatte das Proletariat in Italien den Achtstundentag durch seine Organisationen bereits erobert, ja mehrere Berufsgruppen hatten sogar eine noch kürzere Arbeitszeit durchgeführt. Es handelt sich also durchaus nicht um eine "Gabe", die der Faschismus dem italienischen Proletariat gebracht hat.

Tatsächlich ist festzustellen, daß die Arbeitslosigkeit zunimmt, weil die Arbeiter in den Betrieben von den Unternehmern gezwungen werden weit länger als acht Stunden täglich zu arbeiten.

Die andern "Errungenschaften" sind nicht der Rede wert. Die Arbeiter, die sich früher gewisse Rechte, eine gewisse Bewegungs- und Agitationsfreiheit im Betriebe bereits erkämpft hatten, stehen jetzt unter einer eisernen Disziplin. Der italienische Arbeiter arbeitet heute unter der Knute.

Was die wirtschaftliche Lage anbetrifft, so beweisen alle vorliegenden Ziffern, daß die Löhne gewaltig herabgesetzt sind, nachdem sie vorübergehend eine Höhe erreicht hatten, die der Verteuerung des Lebensunterhalts, der heute das Vier- und Fünffache des Vorkriegssatzes erreicht hat, entsprach. Das Niveau der Lebenshaltung der Arbeiterschaft ist gesunken. Die "Ordnung" ist allerdings in den Betrieben wiederhergestellt, aber es ist eine Ordnung der Reaktion, eine Ordnung im alleinigen Interesse der Ausbeutung durch die Unternehmer. Es gibt Beispiele, die den offensichtlichen Beweis dafür erbringen, daß die ganze faschistische Aktion mit Einschluß der Aktion der faschistischen Gewerkschaften im Dienste der Arbeitgeber des Bundes der Industriellen steht.

Was die Organisation der Seeleute betrifft, so hatte diese, obwohl sie von notorischen Opportunisten, wie Giulietti, geleitet wurde, oder vielleicht gerade deshalb, der faschistischen Gewalt bis zu einem gewissen Grade Widerstand leisten und die Eroberung der Macht durch den Faschismus überdauern können. Neben dieser Organisation bestand eine Genossenschaft der Hafenarbeiter, mit Namen "Garibaldi", die für den neuen Vertrag, dessen Abschluß zwischen Regierung und Reedern bevorstand, umfangreiche Offerten zu machen beabsichtigte. Das bedeutete für die großen Reeder eine gefährliche Konkurrenz. Sie wären dadurch gezwungen worden, auch ihrerseits weniger gewinnbringende Offerten einzureichen. Was taten sie? Die Gruppe der Reeder, der Schiffahrtskönige, gab der faschistischen Regierung eine Order, und die faschistische Regierung beeilte sich, diese Order auszuführen: Sie beeilte sich, auf Grund eines von den Lokalbehörden provozierten Konfliktes, Polizeitruppen zur Besetzung des Bureaus der Genossenschaft zu entsenden und diese dadurch zur Arbeitseinstellung zu zwingen.

Die Sachlage ist sehr kompliziert. Ihr fundamentaler Sinn ist jedoch der folgende: Offensichtlich steht der faschistische Staatsapparat heute im Dienste der kapitalistischen Gruppen, die gegen die Arbeiterschaft kämpfen. Das ganze Leben des Proletariats, das ganze industrielle Leben in Italien bietet heute das schlagendste Beispiel und den klarsten Beweis für die Tatsache, daß bei uns die extremste Form der Ausbildung einer Regierung zum geschäftsführenden Organ der Kapitalisten verwirklicht worden ist.

Die gleichen Vorgänge sind in bezug auf die Lohnarbeiter auf dem Lande zu verzeichnen. Als Beispiel dafür erwähne ich den von der faschistischen Gewerkschaft geführten Streik, den die auf den Reisfeldern beschäftigten Frauen, die sogenannten "Mondarisi", im Gebiet von Lomellina durchführten.

Dieser Streik wurde mit Genehmigung des faschistischen Verbandes erklärt, aber dann setzte der ganze Terror der Reaktion dagegen ein: Die streikenden Frauen wurden durch Polizei und Miliz, d. h. durch die Organe der faschistischen Regierung, angegriffen und niedergeschossen, und der Streik wurde blutig unterdrückt.
Hunderte von Beispielen ähnlicher Art liegen vor und geben ein Bild von der Lage, in der sich augenblicklich das italienische Proletariat befindet. Die faschistische Gewerkschaftspolitik gestattet es der Arbeiterschaft, den Versuch zu machen, Kämpfe zu führen; aber sobald der Konflikt zwischen der Arbeiterschaft und den Unternehmern wirklich ausbricht, greift die Regierung im Interesse der kapitalistischen Ausbeutung mit brutaler Gewalt ein.

Wie steht es nun um die Beziehungen des Faschismus zum Mittelstand?

Eine ganze Reihe von Tatsachen liegt vor, die krasse Beweise für die Enttäuschung des Mittelstandes liefern. Der Mittelstand sah im ersten Augenblick im Faschismus seine eigene Bewegung und den Anfang einer neuen geschichtlichen Epoche. Die Mittelschichten meinten, daß die Zeit der Herrschaft der Großbourgeoisie und ihrer politischen Führer vorbei sei, daß jedoch die proletarische Diktatur: die bolschewistische Revolution, vor der man in den Jahren 1919 und 1920 gezittert hatte, noch nicht anbrechen werde; daß dagegen die Herrschaft des Mittelstandes, der Kriegsteilnehmer, derjenigen, die den Krieg siegreich durchgeführt hatten, im Anzuge sei; sie glaubten, eine machtvolle Organisation schaffen zu können, um die Staatsgewalt in ihre Hände zu nehmen. Sie wollten zur Verteidigung ihrer eigenen Interessen eine eigene selbständige Politik führen, die sich auf der einen Seite gegen die kapitalistische und auf der anderen gegen die proletarische Diktatur wenden würde.

Der Bankrott dieses Programms wird bewiesen durch die Maßnahmen der faschistischen Regierung, die nicht nur das Proletariat, sondern auch den Mittelstand schwer treffen, der seine eigene Macht, seine Diktatur aufgerichtet zu haben wähnte, und der sich sogar zu gewissen Demonstrationen gegen die alte bürgerliche Herrschaft, die er durch die faschistische Revolution gestürzt zu haben glaubte, hinreißen ließ.

Der Faschismus beweist durch alle seine Regierungsmaßnahmen, daß er im Dienste der Interessen der Großbourgeoisie, des Industrie-, Finanz- und Handelskapitals sowie des Großgrundbesitzes steht, und daß seine Herrschaft gegen die Interessen aller andern Klassen: nicht nur des Proletariats sondern darüber hinaus auch der Mittelklassen, gerichtet ist.

So treffen z. B. die Maßnahmen in der Wohnungsfrage alle Klassen ohne Unterschied. Während des Krieges war ein Moratorium eingeführt, das den Hausbesitzern gewisse Beschränkungen in der Steigerung der Mieten auferlegte. Die Faschisten haben diese Beschränkungen abgeschafft und dadurch den Hausbesitzern die Möglichkeit gegeben, die Mieten zu steigern. Allerdings sahen sie sich nach Wiederherstellung der unbeschränkten Freiheit auf diesem Gebiet gezwungen, ein neues Gesetz zu erlassen, das den Rechten der Hausbesitzer wiederum gewisse Grenzen setzt. Aber dieses neue Gesetz ist rein demagogischer Natur. Sein Zweck ist lediglich, den Sturm der Entrüstung, den das erste Gesetz hervorrief, zu besänftigen. Bis heute ist die Wohnungsnot sehr groß. Ähnlich liegt es mit der Schulreform, der "am meisten faschistischen aller Reformen", wie Mussolini es ausdrückt, die der bekannte Philosoph Gentile vorbereitet hat. Es handelt sich dabei um eine vom technischen Standpunkt aus tatsächlich ernst zu nehmende Reform. Um die Frage aufgrund neuer Gedanken zu lösen, wurde eine wirklich bedeutende Arbeit geleistet. Aber die Ganze Tendenz dieser Reform ist aristokratisch: sie bringt für die Söhne der Arbeiter, der Unbemittelten, der Kleinbourgeoisie die Unmöglichkeit guter Ausbildung mit sich. Sie bedeutet, daß ausschließlich die Bemittelten, d. h. die Familien, die für ihre Kinder das hohe Schulgeld bezahlen können, das Vorrecht der Bildung besitzen. Diese Reform hat deshalb im Mittelstand und in der Kleinbourgeoisie, ja sogar unter den Lehrern und Professoren, die dadurch wirtschaftlich schlechter gestellt und einer strengeren Disziplin unterworfen werden, große Unzufriedenheit erregt.

Ein weiteres Beispiel: Um die Frage der Reform der Bürokratie zu lösen, hat der Faschismus eine Revision der Gehälter der Staatsbeamten nach dem Grundsatz: Herabsetzung der niedrigen Gehälter und Erhöhung der Bezüge der höheren Beamten durchgeführt. Auch das auf seiten der Subalternbeamten zu neuer Unzufriedenheit mit der faschistischen Regierung Anlaß gegeben.

Hinzu kommt die Frage der Steuern, die hier nicht ausführlich behandelt werden kann, die jedoch deutlich den Klassencharakter der faschistischen Regierung beweist. Die faschistische Regierung wollte das Budget ins Gleichgewicht bringen. Sie hat aber zu diesem Zweck keinerlei Maßnahmen gegen die Kapitalisten ergriffen. Um die Staatseinnahmen zu erhöhen, hat sie ausschließlich die Lasten, die das Proletariat, die Verbraucher, der Mittelstand und die Kleinbourgeoisie zu tragen haben, erhöht.

Eine der Hauptursachen für die Unzufriedenheit mit dem Faschismus liegt in der Behandlung, die er der Landbevölkerung, den Kleinbauern, Pächtern usw., zuteil werden ließ.

Der Faschismus ist der Feind des Industrieproletariats, aber der italienischen Bauernschaft hat er eine nicht weniger schwerwiegende Verschlechterung ihrer Lage gebracht. Schon durch die früheren Regierungen waren gewisse Bestimmungen zur Regelung der Steuern auf dem Lande erlassen, jedoch noch nicht praktisch durchgeführt worden. Diese Durchführung hat nunmehr der faschistische Minister de Stefani mit so drakonischer Strenge in die Wege geleitet, daß auf dem ganzen ländlichen Kleinbesitz, sogar auf dem Einkommen des Kleinbauern, des Pächters und des Landarbeiters, eine geradezu erdrückende Steuerlast ruht. Hinzu kommen die Kommunal- und Provinzialsteuern, die früher von den sozialistischen Gemeindevertretungen in antikapitalistischem arbeiterfreundlichem Sinne gehandhabt wurden. Heute dagegen erschweren die Viehsteuer und ähnliche Steuern die Lage der Kleinbauern sehr. Die Weinsteuer hat kürzlich eine geringfügige Herabsetzung erfahren, um der ungeheuren Unzufriedenheit auf dem Lande die Spitze abzubrechen. Nach wie vor bedeuten aber alle diese Steuern einen furchtbaren Druck für die bäuerliche Bevölkerung.

Ich werde nur das Beispiel anführen, das uns ein Genosse der italienischen Delegation, der selbst Kleinbauer ist, gibt. Für eine Bodenfläche von 12 Hektar, die er zum Teil selbst besitzt, zum Teil gepachtet hat, muß er bei einer Bilanz von 12000 Lire 1500 Lire, d. h. 12,5 Prozent, Steuern bezahlen. Danach kann man ermessen, was aus dem Boden herausgewirtschaftet werden müßte, um den Lebensunterhalt für die Familie und das Personal zu sichern.

Im Süden hat sich eine bemerkenswerte Tatsache gezeigt. Im vergangenen Jahre war die Weinernte sehr gut. Die Preise sanken gewaltig. In diesem Jahre wird der Wein zu minimalen Preisen verkauft. Die Pächter, die dort sehr zahlreich sind, erklären nun, daß sie keinerlei Gewinn realisieren werden. Denn wo neben dem Weinbau noch weiteres angebaut wird, rechnen die Pächter im allgemeinen damit, daß dieser weitere Anbau ungefähr die Produktionsunkosten deckt, während der Weinbau für sie den Gewinn abwirft, von dem sie ihr Leben bestreiten. Bei dem heutigen Weinpreis, bei den Steuern und den Kosten der Zubereitung des Weins bleibt für sie selbst, wie festgestellt wurde, keinerlei Gewinn. Produktionsunkosten und Verkaufspreis decken sich; für ihren eigenen Verbrauch und den Verbrauch ihrer Familien bleibt den Weinbauern nichts übrig. Sie sind gezwungen, Schulden zu machen, Vorschüsse von den Kleinbürgern der ländlichen Zentren oder von den Großgrundbesitzern zu erbitten und, falls sie Grundbesitzer sind, Hypotheken auf ihr Land aufzunehmen. In der Zeit unmittelbar nach dem Kriegsende war die Erhöhung der Pachten gesetzlich verboten. Dieses Gesetz ist durch die Faschisten abgeschafft worden; die Kleinpächter müssen heute den Großgrundbesitzern eine um 100 bis 400 Prozent erhöhte Pacht zahlen. Dabei können Kleinbauern und Pächter nicht existieren. Auch die Bestimmungen über die Aufteilung der Ernte zwischen Grundbesitzern und Pächtern sind stark zuungunsten des letzteren abgeändert worden. Um sein Leben zu fristen, ist der Kleinbesitzer gezwungen, einen Teil seines Grund und Bodens zu verkaufen oder auf den Grund und Boden zu verzichten, den er unter der Bedingung sofortiger Barzahlung der Hälfte des Kaufpreises und späterer Abzahlung der andern Hälfte gekauft hatte. Kann er heute nicht bezahlen, so verliert er sowohl den Grund und Boden, den er erwarb, wie das bereits angezahlte Geld. Es geht tatsächlich eine Expropriierung der Kleinbesitzer vor sich. Nach dem Kriege hatte der Kleinbesitzer zu hohen Preisen Grund und Boden gekauft, heute, wo er kein flüssiges Geld besitzt, ist er gezwungen,. den Grund und Boden zu niedrigeren Preisen zu verkaufen. Ich wiederhole, daß es sich um eine wirkliche Expropriierung der Kleinbesitzer durch die Großgrundbesitzer handelt, die mehr und mehr zu einer allgemeinen Erscheinung wird. Alle Maßnahmen der faschistischen Regierung auf diesem Gebiet haben die Lage des Landproletariats nur noch verschlechtert.

In früheren Zeiten haben die Sozialisten eine Agitation betrieben deren Methode nicht unsere volle Zustimmung finden konnte: Sie versuchten große Drainagearbeiten durch die Regierung vornehmen zu lassen, um Beschäftigung für die Landarbeiter und Tagelöhner zu finden und so durch Entlastung des landwirtschaftlichen Arbeitsmarkts die Arbeitslosigkeit zu bekämpfen. Diese Arbeiten sind jetzt, um das Budget ins Gleichgewicht zu bringen, von der faschistischen Regierung eingestellt worden. Dadurch ist eine große Anzahl Landarbeiter auf den Arbeitsmarkt geworfen, ist das Elend auf dem Lande verschärft und die Lebenshaltung des Landproletariats noch weiter verschlechtert worden.

Die Unzufriedenheit richtet sich direkt gegen die faschistische Regierung. Die Faschisten haben viel gegen den Parasitismus der alten roten Genossenschaften geredet, die vermittels parlamentarischen Druckes den Staat durch die Forderung derartiger Arbeiten systematisch ausbeuteten. Heute machen sie genau das gleiche. Sie versuchen, mit ihren faschistischen Genossenschaften (sie haben fast den gesamten genossenschaftlichen Apparat der Sozialisten gewaltsam in ihren Besitz gebracht) im Interesse der neuen faschistischen Bureaukratie genau die gleiche Politik zu treiben.

Die Lage, in die der Faschismus die Bauernschaft versetzt hat, ist derart, daß heute diese Klasse in der faschistischen Regierung eine Macht erkennt, die ihren Interessen feindlich gegenübersteht, und daß sie allmählich eine Kampfstellung gegen diese Regierung einnimmt. Schon liegen Beispiele von bewaffneten Bauernaufständen gegen die Steuern und gegen die faschistischen Gemeindeverwaltungen vor, die zu blutigen Auseinandersetzungen führten. Das ist eine äußerst bemerkenswerte Tatsache, durch die die Lage gekennzeichnet wird. Nach diesen Bemerkungen über die soziale Politik des Faschismus gehe ich nunmehr zu andern Gebieten über, zunächst zur Politik des Faschismus auf religiösem Gebiet. Die Haltung des Faschismus auf diesem Gebiet bietet ein Beispiel für seine theoretische Beweglichkeit. Anfangs hatte der Faschismus, um gewisse traditionelle Stimmungen des Mittelstandes und der Intellektuellen auszunutzen, ein antiklerikales, antikirchliches Programm; auf diese Weise bekämpfte er die Volkspartei (Popolari - katholische Partei), um deren Einfluß auf dem Lande zu untergraben.

Während des zweiten Zeitabschnittes tritt der Faschismus mit den Popolari in Konkurrenz und wird zur offiziellen Partei der Religion und des Katholizismus. Diese Tatsache ist vom geschichtlichen und theoretischen Standpunkt aus bemerkenswert. Der Vatikan trieb eine dem Faschismus freundliche Politik. Er nahm mit Befriedigung die Konzessionen an, die die faschistische Regierung durch Besserung der Lage der Geistlichen und durch Wiederherstellung des Religionsunterrichts in den Schulen ihm machte. Mussolini, der einstige Herausgeber einer kleinen antireligiösen Bibliothek in der Schweiz - einer Bibliothek jener kleinen Fünfpfennighefte, in denen die Nichtexistenz Gottes bewiesen wurde, in denen man die Verbrechen der Päpste und die Geschichte der Frau, die zum Papst gewählt wurde, lesen konnte, und auch alle die andern Dummheiten, mit denen man während mehrerer Jahre die Gehirne der Arbeiter verwirrte - Mussolini selbst ruft heute, sobald es ihm erforderlich scheint, den "Ewigen Vater" an und behauptet, daß er Italien "im Namen Gottes" beherrsche.

Der politische Opportunismus des Vatikans läßt jedoch einen fundamentalen Gegensatz nicht in Erscheinung treten, der in den Beziehungen des Faschismus zu den Popolari, die eine Art christlicher Demokratie darstellen, klar hervortritt: Die katholische Idee als solche ist dem Faschismus feindlich, denn der Faschismus bedeutet eine Verherrlichung des Vaterlandes, der Nation; das ist aber vom Standpunkt des Katholizismus aus eine Ketzerei. Der Faschismus möchte aus dem Katholizismus eine nationale italienische Angelegenheit machen. Die katholische Kirche jedoch treibt grundsätzlich eine internationale, universelle Politik, um ihren moralischen und politischen Einfluß über alle Grenzen hinaus auszudehnen. Dieser äußerst bemerkenswerte Gegensatz ist für den Augenblick durch ein Kompromiß zwischen Faschismus und Vatikan gelöst worden.

Wenden mir uns nun kurz der auswärtigen Politik des Faschismus zu. Die Faschisten behaupten, Italien habe sich vom Standpunkt der internationalen Politik aus in einer äußerst ungünstigen Lage befunden: Man habe es verspottet, aber seit der Faschismus an der Macht sei, seit Italien eine kraftvolle Regierung habe, werde es ganz anders geachtet und nehme es in den internationalen Fragen eine ganz andere Stellung ein.

Die Tatsachen beweisen jedoch, daß die auswärtige Politik des Faschismus nur die alte Tradition der italienischen Bourgeoisie fortsetzen kann. Materiell ist nichts geändert worden, ist nichts Neues eingetreten. Im ersten Augenblick hat Mussolini mit der weltbekannten Episode der Besetzung von Korfu seine Hauptkarte ausgespielt, aber danach hat er sofort auf derartige Streiche verzichtet, hat sich zur Vernunft bekehrt und ist in die Reihen der orthodoxen Diplomatie aufgenommen worden. In den anderen Fragen hat er sich wohl gehütet, auf solche Weise vorzugehen. Die großen französischen und englischen Blätter schreiben, daß Mussolini ein sehr geschickter Politiker ist, und daß er nach der Korfuexpedition, die eine Art Kinderei war, sehr vorsichtig und weise geworden sei.

In der Tat, die internationale Politik Mussolinis ist die einzige, die heute in Italien gemacht werden kann, nämlich eine Politik zweiten Ranges, weil Italien selbst im Kampfe der großen Weltmächte nur eine Rolle zweiten Ranges spielt. In der Reparationsfrage und im Konflikt zwischen Frankreich und Deutschland hat Mussolini immer eine vermittelnde Haltung eingenommen, die das bestehende Kräfteverhältnis nicht irgendwie nach der einen oder nach der andern Richtung hin beeinflußte. Seine schwankende Haltung ist bald von Deutschland, bald von Frankreich und bald von England mit Befriedigung aufgenommen worden.

Der Faschismus konnte wohl das Kräfteverhältnis innerhalb der italienischen Grenzen verändern, ja es vollständig umstoßen. Er kann das aber nicht im internationalen Maßstab wiederholen, denn auf die internationalen Machtverhältnisse hat er keinen Einfluß. In Anbetracht der Tatsache, daß die geschichtlichen und sozialen Vorbedingungen dafür fehlen, kann von einem italienischen Imperialismus heute nicht ernstlich die Rede sein.

Gewisse Tatsachen setzen die große Bescheidenheit ins rechte Licht, zu der Mussolini in seiner auswärtigen Politik gezwungen ist. Die Fiumefrage ist durch ein Kompromiß mit Jugoslawien gelöst worden. Die Kriegsdrohungen gegenüber Jugoslawien haben einer Politik der Kompromisse und der Versöhnung mit diesem Lande Platz gemacht. Auch hier hat der imperialistische Nationalismus sich vor den realen Tatsachen der auswärtigen Politik beugen müssen.

Auch die Anerkennung Sowjetrußlands beweist, daß es sehr wohl möglich ist, in Italien eine Politik der äußersten Rechten zu treiben, aber daß die Tatsache der Machtergreifung durch die Faschisten in Italien nicht genügt, um diese Politik auch international durchzuführen.

Welche Wirkung hat die Anerkennung Sowjetrußlands auf das italienische Proletariat ausgeübt? Das italienische Proletariat besitzt eine einigermaßen gute revolutionäre Schulung. Es ist nicht auf die Machenschaften der faschistischen Presse hereingefallen, die bis zu einem gewissen Tage ihre Verleumdungen gegen die Bolschewisten, alle Greuelmärchen über Rußland zusammentrugen und dann plötzlich befehlsgemäß das Gegenteil schrieben: nämlich, daß es sich nicht mehr um eine kommunistische Revolution handele, daß der Bolschewismus liquidiert und Rußland ein bürgerliches Land wie andere Länder auch sei, daß zwischen Italien und Rußland gemeinsame materielle Interessen bestünden, daß Rußland und das faschistische Italien sehr wohl zusammengehen könnten usw. Es wurde ferner der ungeschickte Versuch gemacht, zu sagen: Es handelt sich hier um zwei Revolutionen, um zwei Diktaturen, um zwei Beispiele der gleichen politischen Methode der Abschaffung der Demokratie, die naturgemäß zu paralleler Aktion kommen müssen, und dergl. Diese politische Erklärung fällt jedoch in das Gebiet der Lächerlichkeit; sie ist nicht der Rede wert. Tatsächlich handelte es sich um bestimmte kapitalistische Interessen: Die faschistische Politik hatte die ungünstige Entwicklung der Industrie auf dem Gebiet des Außenhandels nicht verhindern können, und um neue Absatzmärkte zu finden, lag es im Interesse der italienischen Kapitalisten, mit Rußland in Beziehungen zu treten.

Das italienische Proletariat hat dieses Ereignis als Bestätigung der Schwäche des Faschismus, nicht als Bestätigung der Schwäche Sowjetrußlands aufgefaßt. Ich bin jedoch gezwungen, zu erwähnen, daß das richtige politische Verständnis des italienischen Proletariats gegenüber diesem internationalen Ereignis allerersten Ranges durch einen bedauerlichen Vorfall getrübt wurde: Es wurden von seiten einiger russischer Genossen gewisse Erklärungen abgegeben, die in der Auslegung dieses politischen Aktes zu weit gingen und Italien gegenüber Freundschaftsbeteuerungen enthielten, die als Freundschaftsbeteuerungen gegenüber dem offiziellen Italien, gegenüber dem großen Führer Mussolini aufgefaßt werden konnten. Das mußte in dem von den Faschisten geschlagenen und verfolgten italienischen Proletariat ein gewisses Unbehagen erregen. Hätte man diese falschen Schritte unterlassen, so hätte sich alles andere unter vollem politischen Verständnis des revolutionären italienischen Proletariats abgespielt.

Ich wende mich nunmehr den Beziehungen zwischen dem faschistischen Parteiapparat und dem Staatsapparat unter der neuen Regierung zu. Diese Beziehungen haben zu sehr ernsten Problemen geführt, die für den Faschismus eine schwere Krise mit sich brachten und ständige Konflikte innerhalb seiner eigenen Reihen hervorriefen.

Das Leben innerhalb der faschistischen Organisation ist vom Anfang an sehr bewegt gewesen. Allerdings handelt es sich um eine sehr umfangreiche Organisation, die 700 000 politisch organisierte Mitglieder - innerhalb der einzelnen Sektionen der Landespartei - umfaßt, und in einer so großen Organisation sind natürlich Konflikte unvermeidlich. Aber die Schärfe und die Heftigkeit der Konflikte in der faschistischen Bewegung Italiens sind außerordentlich. Im ersten Augenblick ist die Frage der Beziehungen zwischen Partei und Staat sehr mangelhaft gelöst worden. Es wurden politische Kommissare aus den Reihen der Partei den Staatsbehörden beigegeben, die in den staatlichen Ämtern auf die Staatsbeamten einen gewissen Einfluß ausübten und die damit die tatsächliche Macht in Händen hatten. Das führte natürlich zu Konflikten. Diese Organisationsmethode mußte revidiert und der Staatsapparat mußte durch Beseitigung der faschistischen Kommissare in seine alten Rechte wieder eingesetzt werden.

Diese Krise ist nur mit großer Schwierigkeit überwunden worden; sie ist nicht endgültig gelöst, denn innerhalb der faschistischen Bewegung bildeten sich zwei Richtungen heraus: eine Richtung, die die Revision des extremen Faschismus anstrebt, die zur Legalität zurückkehren will und die erklärt: Wir haben nunmehr die Macht in Händen, wir haben unsern großen politischen Führer Mussolini, wir können uns jetzt darauf beschränken, durch die ordnungsgemäße Handhabung der legalen Macht zu regieren; der ganze Staatsapparat steht zu unserer Verfügung, wir bilden die Regierung, unser Führer genießt das Vertrauen aller Parteien; die Partei braucht sich also nicht mehr direkt in Verwaltungsangelegenheiten zu mischen. Diese Richtung will auf den gewaltsamen Kampf, auf den Gebrauch illegaler Gewaltmittel verzichten und will zu normalen Verhältnissen zurückkehren. Sie versucht, Mussolini für sich in Anspruch zu nehmen, indem sie ihn von den extremen faschistischen Elementen loslöst.

Diese extremen Elemente rekrutieren sich aus den lokalen Führern. Man hat ihnen die abessinische Bezeichnung "Ras" beigelegt. Der Rassismus tritt für die lokale Diktatur der faschistischen Okkupationsarmee in ganz Italien, ja selbst für die "zweite Welle" des Terrors gegen alle oppositionellen Elemente ein. Einer seiner charakteristischen Vertreter ist der Abgeordnete Farinani, der kürzlich sogar die Todesstrafe für Antifaschisten vorgeschlagen hat.

Zwischen diesen beiden Extremen: zwischen derjenigen Richtung, die die "zweite Welle" der Offensive gegen die Opposition fordert, die sagt: wenn Mussolini darauf hinweist, daß die Revolution noch nicht durchgeführt sei, so müsse sie jetzt durchgeführt werden, so müsse jetzt, wie man sich ausdrückt, "fünf Minuten Feuer" kommandiert werden, um alle Feinde des Faschismus endgültig zu vernichten -und der andern Richtung, die die Annäherung zwischen Faschismus und gewissen oppositionellen Elementen, ja sogar Reformisten vom Schlage der Führer des Gewerkschaftsbundes erstrebt, hat Mussolini bisher durch geschickte, bald den einen, bald den andern gemachte Konzessionen ein gewisses Gleichgewicht hergestellt. Er hat den Staatsbeamten und dem Staatsapparat die alten Rechte zurückgegeben, aber er will dennoch die vom Staatsapparat unabhängigen Organisationen, zu denen die Macht des Faschismus und seine Verteidigungsmöglichkeiten gegenüber revolutionären Angriffen beruht, nicht als Stützpunkte preisgeben.

Der Faschismus hat das Parlament nicht aufgelöst. Die alte Kammer hat, wie bereits erwähnt, Mussolini zu wiederholten Malen das Vertrauen ausgesprochen, ihm alle Vollmachten und was er sonst verlangte, übertragen. Dennoch hat der Faschismus das Wahlrecht abändern wollen. In Italien bestand das Verhältniswahlrecht für die Parteien. Der Faschismus wollte sich die Mehrheit sichern. Meiner Ansicht nach wäre das sogar mit Hilfe der Maschinerie des alten Wahlrechts möglich gewesen, wenn man die faschistischen Wahlmethoden in Betracht zieht. Auch mit dem Proportionalwahlrecht hätte nach der abgegebenen Stimmenzahl der Faschismus das erreicht, was er heute erreicht hat. Auf Grund des neuen Wahlgesetzes hat die Liste, die die meisten Stimmen auf sich vereinigt und die insgesamt 25 Prozent der gesamten im Lande abgegebenen Stimmen erreicht, das Anrecht auf zwei Drittel der Sitze im neuen Parlament. Das heißt: Ein Viertel der abgegebenen Stimmen genügt, um zwei Drittel des Parlaments zu besetzen, natürlich unter der Voraussetzung, daß nicht eine andere Liste 26 oder 27 Prozent der Gesamtzahl der Stimmen erreicht; in diesem Falle würde es die letztere Liste sein, der die Prämie der Majorität zufällt. Auf der nationalen Mehrheitsliste standen 375 Namen. Diese Abgeordneten hat also tatsächlich Mussolini selbst gewählt, denn es stand fest, daß diese Liste über 25 Prozent der Stimmen erhalten würde. Um die Kandidatenaufstellung entspann sich ein wirklicher Kampf in der faschistischen Partei: Ungefähr 10000 faschistische Führer hatten den Ehrgeiz, zu den 375 Auserwählten zu gehören.

Man hatte sogar nicht alle Plätze auf der Kandidatenliste für die Faschisten reservieren können. Man hat eine doppelte Wahltaktik angewandt: Im Norden, wo die faschistischen Organisationen sehr stark sind, hat man jegliches Kompromiß abgelehnt, hat man Listen aufgestellt, die sich ausschließlich aus ordentlichen Mitgliedern der faschistischen Partei zusammensetzen. Im Süden jedoch, wo die faschistische Organisation viel schwächer ist, sah man sich zu einem Kompromiß mit gewissen politischen Persönlichkeiten des alten Regimes gezwungen: man räumte ihnen auf der Liste erheblichen Raum ein. Auf diese Weise setzten sich die Kandidaten zum Teil aus den neuen Männern des Faschismus, die aus den Reihen der faschistischen Partei kamen, und daneben aus einer Anzahl sozusagen traditioneller politischer Persönlichkeiten zusammen.

Die Wahlen haben stattgefunden. Ich werde darüber nicht im einzelnen sprechen. Es ist bekannt, daß der faschistische Terror nicht soweit ging, der Opposition den Gebrauch des Wahlrechts unmöglich zu machen. Die Sache wurde von seiten der faschistischen Regierung mit einer gewissen Geschicklichkeit gehandhabt, denn man wußte genau, daß bei völliger Ausschaltung der Wahlmöglichkeit für die Opposition die Wahlen sofort jede politische Bedeutung verlieren würden. Die Regierung beschränkte sich deshalb darauf, durch ihren Apparat das Resultat der Wahlen vollkommen in ihrem Sinne zu beeinflussen. Mussolini sagt nun: "Die Wahlen haben stattgefunden. Die übergroße Mehrheit hat für uns gestimmt, diese Zustimmung der übergroßen Mehrheit der italienischen Bevölkerung legalisiert unsere Macht. Man kann nicht mehr von der Herrschaft einer Minderheit sprechen."

Bei der Beurteilung der Wahlvorgänge muß man scharf zwischen dem Norden und dem Süden Italiens unterscheiden. Im Norden verfügt der Faschismus über sehr starke Organisationen, vor allem auf dem platten Lande, aber auch in den Industriestädten. Er konnte dort seine Wähler überwachen. Er konnte eine Kontrolle darüber organisieren, daß die faschistischen Parteimitglieder ihre Stimme ordnungsgemäß abgaben, d. h. er hob das Wahlgeheimnis nahezu vollständig auf. Die Faschisten haben allerdings ihre Gegner rücksichtslos bekämpft, aber sie haben sie letzten Endes ihr Wahlrecht ausüben lassen, weil sie auf ihre eigene Kraft vertrauten. Aus diesem Grunde hat im Norden der Faschismus nur eine sehr schwache Mehrheit erhalten, d. h. Mehrheit im wirklichen Sinne, im Sinne von mehr als 50 Prozent; ich spreche hier natürlich nicht von der festgelegten künstlichen Mehrheit von 25 Prozent. In einigen Städten, wie z. B. in Mailand, weiß man sehr wohl daß die nationale faschistische Liste gegenüber den Oppositionslisten in der Minderheit blieb.

Im Süden hat dagegen der Faschismus auf seine Listen eine gewaltige Mehrheit der Stimmen vereinigt. Die Gesamtzahl der abgegebenen Stimmen betrug in ganz Italien 7 300 000; die faschistischen Listen haben davon 4 700 000 Stimmen erhalten; die Hälfte der Gesamtzahl beträgt 3 600 000, d. h. daß die Faschisten diese Hälfte um nahezu eine Million Stimmen überschritten haben. Diese gewaltige Mehrheit ist im Süden, dort, wo der Faschismus sich auf keinerlei feste Organisationen stützen kann, gewonnen worden: das ist das Merkwürdigste bei der Sache.

Mit Ausnahme gewisser Distrikte, wo die landwirtschaftlichen Konflikte sich ähnlich wie in der Po-Ebene abspielten, hat es im Süden Italiens niemals einen echten tatsächlichen Faschismus gegeben. Der Faschismus hat dort auf folgende Weise Fuß gefaßt: Nach der faschistischen Machtübernahme hielten die lokalen bürgerlichen Cliquen es für angebracht, sich formell dem Faschismus anzuschließen, um den Verwaltungsapparat in die Hände zu bekommen und ausbeuten zu können. Es gibt im Süden keine ernstliche faschistische Organisation, und doch wurde gerade im Süden, durch sehr einfache Mittel, diese große Mehrheit erzielt. Man hat dort die Wahl nach freiem Ermessen durchgeführt: man hat die Vertreter der gegnerischen Listen verjagt, man hat faschistische Trupps organisiert, die man mit Wahlausweisen, die die Komunalverwaltung zur Verfügung stellte, ausrüstete, und jedes Mitglied dieser Trupps hat 30, 40 und 50 mal seine Stimme abgegeben. So wurde die faschistische Mehrheit erzielt. Auf Grund dieser Vorgänge sah Mussolini sich zu der sonderbaren Feststellung gezwungen, daß der Süden Italiens das Vaterland retten würde, daß im Süden die stärksten Kräfte für den Kampf gegen die revolutionäre Demokratie bereitstünden, daß der Süden sich in den Jahren 1919 und 1920 nicht habe mitreißen lassen usw. Er hat dadurch seine ganze frühere offizielle politische Auffassung der italienischen Lage, nämlich die, daß der Norden der fortgeschrittenste und zivilisierteste Teil des Landes, die stärkste Stütze des Staates sei, auf den Kopf gestellt. In seinen letzten Reden kommt er allerdings auf diese ältere Auffassung zurück und vergißt dabei scheinbar ganz, seine Worte mit der Bedeutung der offiziellen statistischen Wahlresultate in Einklang zu bringen.
Im Süden ist der Faschismus offensichtlich sehr schwach: man kann wohl sagen, daß im Fall Matteotti der Süden sich mit absoluter Einigkeit gegen die Regierung ausgesprochen hat. Diese bedeutsame Tatsache ist ein Beweis dafür, mit welchen künstlichen Mitteln der Faschismus sich an der Macht hält.

Noch ein kurzer Hinweis auf die andern Parteien, die sich an der Wahl beteiligten.

Bevor ich auf die faschistenfreundlichen Parteien eingehe, will ich die nationalistische Partei erwähnen, die heute vollkommen offiziell mit der faschistischen Partei verschmolzen ist. Die nationalistische Partei bestand schon lange, bevor von Faschismus die Rede war; sie hat auf die Entwicklung des Faschismus großen Einfluß ausgeübt; sie war es, die ihm das geringe theoretische Rüstzeug, das er besitzt, mitgab. Auch der von Salandra geführte rechte Flügel der Liberalen hat sich vollkommen dem Faschismus angeschlossen; seine Mitglieder standen als Kandidaten auf der faschistischen Liste; andere "liberale" Persönlichkeiten und Gruppen, die nicht in die faschistische Wahlliste aufgenommen wurden, haben neben dieser offiziellen Liste rein faschistische Parallellisten aufgestellt, um, wenn möglich, von den der Minderheit reservierten Parlamentssitzen noch einige für sich zu erraffen. Neben den offiziellen Listen und diesen Parallellisten gab es noch weitere liberale Listen, die von der Regierung offiziös unterstützt wurden. Andere, nicht ausgesprochen antifaschistische Listen, wie die Liste Giolitti wurden nicht bekämpft, man ließ sie gewisse Sitze erobern; die Regierung verhielt sich ihnen gegenüber neutral.

Was die Opposition anlangt, muß in erster Linie die Niederlage betont werden, die die parlamentarischen Parteien erlitten, in die die früher der Zahl ihrer Abgeordneten nach so starke "Demokratie" zerfallen war. Bonani (Sozialreformist der äußersten Rechten) ist nicht ins Parlament zurückgekehrt. Di Cesare und Amendoli haben nach dem harten Kampf, den die Regierung vor allem dem letzteren lieferte, nur kleine Grüppchen von Anhängern gerettet.

Auch die Volkspartei (Popolari) hat eine schwere Niederlage erlitten. Die Volkspartei hatte in der zweiten Kammer sogar an der faschistischen Regierung teilgenommen; sie hatte: immer eine zweideutige Haltung bewahrt, und sie kam erst durch ihren Kampf gegen das neue Wahlgesetz zum offenen Bruch mit Mussolini. Mussolini entledigte sich darauf der volksparteilichen Minister. Die Krise, die das zur Folge hatte, zwang den Führer der Partei, Don Sturzo, offiziell sein Amt niederzulegen; tatsächlich leitet er die Politik der Partei weiter. Das hat zu einer Art Spaltung geführt. Eine rechte Gruppe, die nationalen "Popolari", haben sich von der Partei losgelöst und sind für die faschistische Liste eingetreten. Die Masse der Partei folgt jedoch nach wie vor Don Sturzo. Die äußerste Linke, die von Miglioli geführt wird, hat sich aufgelöst. Für diese letztere Richtung war die Agitation charakteristisch, die sie auf dem Lande führte, und die bisweilen derjenigen der revolutionären Organisationen nahekam. Innerhalb der Partei hat unter der Form des vermittelnden Zentrismus von Don Sturzo der Einfluß der Großgrundbesitzer die Oberhand behalten. Aber die Bewegung der Popolari hat einen schweren Stoß erlitten.

Eine weitere sehr bemerkenswerte kleine Partei, die sich an den Wahlen beteiligte, ist die Bauernpartei. Sie hat in zwei oder drei Distrikten Italiens eigene Listen aufgestellt. Diese Partei setzt sich aus den unzufriedenen Kleinbauern zusammen, die die Vertretung ihrer Interessen keiner der bestehenden Parteien anvertrauen wollten. Sie haben es vorgezogen, eine unabhängige Partei zu bilden. Diese Bewegung hat vielleicht eine Zukunft. Sie ist vielleicht dazu bestimmt, im nationalen Maßstab Bedeutung zu gewinnen.

Die kleine Republikanische Partei, die zum Teil als proletarische Partei anzusehen ist, nimmt eine etwas unklare Haltung ein, führt jedoch gegen die faschistische Regierung eine ziemlich energische Opposition. Sie hat im Parlament zwei Sitze gewonnen: In der alten Kammer zählte sie fünf, heute zählt sie sieben Abgeordnete.
Es bestehen ferner die drei Parteien, die sich aus der alten traditionellen Sozialistischen Partei heraus entwickelt haben: die Unitarische Sozialistische Partei, die Maximalistische Sozialistische Partei und die Kommunistische Partei. Bekanntlich hatten diese drei Parteien, als sie noch in einer Partei vereinigt waren, im Parlament zusammen 150 Sitze inne. Heute verfügen die Unitarischen Sozialisten (Reformisten) über 24, die Maximalisten über 22 und die Kommunisten über 19 Sitze. Im Namen der proletarischen Einheit hatten die Kommunisten mit der Fraktion der III. Internationale innerhalb der Maximalistischen Partei gemeinsame Listen aufgestellt. Man kann sagen, daß die Kommunistische Partei die einzige von allen Oppositionsparteien ist, die nicht nur in alter Stärke ins Parlament zurückkehrte, sondern noch einige neue Sitze hinzueroberte. Wir verfügten 1921 über 15 und haben heute 19 Abgeordnete. Ein Mandat scheint allerdings für ungültig erklärt zu sein, wir sind vielleicht nur noch 18 an Zahl, aber das sind Einzelheiten.

Außer den kleinen irredentistischen Listen der annektierten Deutschen und Slawen gibt es noch eine Sardinische Partei, die vor einigen Jahren auf der Insel Sardinien entstanden ist und die, wenn nicht die völlige Loslösung von Italien, so doch weitgehende provinziale Autonomie fordert. Es handelt sich um eine Bewegung, die auf die Dezentralisation des Staates, auf eine weitgehende Auflösung des italienischen Staatsverbandes und der italienischen Nation hinzielt, und die vielleicht zu Parallelbewegungen in andern Distrikten, die sich in schlechter Lage befinden, führen wird. In der Basilicata soll eine ähnliche Partei in Bildung begriffen sein. Diese Bewegung steht auch in gewissem Zusammenhang mit einer rein intellektuellen Bewegung in Turin, die auf der Grundlage liberaler, zum Teil föderalistischer Theorien die Zeitschrift "Liberale Revolution" herausgibt. Diese Gruppe führt eine energische Opposition gegen den Faschismus, sie hat eine Anzahl Sympathisierender aus den Schichten der Intellektuellen und der freien Berufe um sich gesammelt.

Man sieht, daß die Opposition in eine große Anzahl kleiner Gruppen zerfällt. Daneben verdienen noch einige politische Strömungen Erwähnung, die bei den Wahlen nicht in Aktion getreten sind.

Es besteht zum Beispiel die von d'Annunzio geführte Bewegung, d. h. eine kleine Elite, die sich um d'Annunzio schart und die das Zeichen ihres Führers erwartet, um in Aktion zu treten. Aber d'Annunzios Auftreten ist in der letzten Zeit ziemlich widerspruchsvoll gewesen. Er hat sich während einiger Zeit schweigend verhalten. Diese Bewegung ist aus der ursprünglichen Bewegung des Mittelstandes und der Kriegsteilnehmer entstanden, die die offizielle Mobilisierung durch die Großbourgeoisie nicht mitmachen wollten, und die sich - als sie festgestellt hat, daß der Faschismus sein Programm verleugne, um ganz in konservative Bahnen einzuschwenken - abseits stellten. Daneben besteht die bemerkenswerte Bewegung des "liberalen Italiens", d. h. die antifaschistische Opposition innerhalb der Organisation der Kriegsteilnehmer, deren Einfluß, augenblicklich stark zunimmt. Eine weitere antifaschistische Bewegung, die intensiv arbeitet, sind die Freimaurerlogen. Diese Freimaurerlogen haben gegenüber den Faschismus eine schwere Krise durchgemacht. Es hat sogar eine Spaltung stattgefunden, die allerdings nicht von großer Bedeutung war: Man versuchte eine kleine Oppositionsgruppe, die für den Faschismus eintrat, von den Freimaurern loszulösen.
Die Faschisten haben eine Kampagne gegen die Freimaurer geführt. Mussolini hat als Faschist denselben Beschluß über die Unvereinbarkeit mit der Freimaurerei zur Annahme gebracht, für den er als Sozialist im Jahre 1914 eintrat.

Die Freimaurerei hat es an einer ernstlichen Erwiderung auf diese Angriffe nicht fehlen lassen. Sie hat im Ausland in den liberalen Schichten des Bürgertums durch die Propaganda gegen den faschistischen Terror eine bedeutende Aufklärungsarbeit gegen den Faschismus geleistet. Auch in Italien geht eine geheime Aufklärungsarbeit von einiger Bedeutung unter der Kleinbourgeoisie und den Intellektuellen, in deren Kreisen die Freimaurer sehr einflußreich sind, vor sich.

Die anarchistische Bewegung spielt heute in der italienischen Politik keine Rolle von großer Bedeutung.

Man sieht, welches komplizierte Bild die verschiedenen Oppositionsströmungen gegen die mächtige faschistische Mehrheit bieten.

Aber was bedeutet diese Opposition, wenn sie auch in der Presse eine gewisse Macht repräsentiert, auf dem Gebiet der politischen und der militärischen Organisation, d. h. im Hinblick auf die praktische Möglichkeit eines Angriffs gegen den Faschismus in absehbarer Zeit? Hier bedeutet sie fast nichts. Allerdings möchten einige Gruppen, wie die Republikaner und die Freimaurer, glauben machen, daß sie tatsächlich eine illegale Organisation gegen den Faschismus besitzen. Aber derartige Gerüchte sind nicht ernst zu nehmen. Was ernst zu nehmen ist, ist allein die bedeutende Oppositionsströmung in der öffentlichen Meinung und in der Presse. Die bürgerliche Opposition verfügt über eine ziemlich bedeutende Presse, und gewisse sehr verbreitete Presseorgane Italiens nehmen eine Haltung ein, die - wenn auch nicht offen oppositionell - sich dennoch eindeutig gegen den Faschismus gewendet. So beeinflussen zum Beispiel der "Corriere della Sera" in Mailand und die "Stampa" in Turin die öffentliche Meinung vor allem des Mittelstandes stark im Sinne einer zähen, wenn auch nicht sehr lauten Opposition.

Alles das bietet den Beweis für die Zunahme der Unzufriedenheit gegenüber dem Faschismus seit dessen Machtübernahme.
Wenn es auch schwierig ist, die verschiedenen Oppositionsgruppen genau zu definieren und zu rubrizieren, so läßt sich doch eine scharfe Trennungslinie zwischen der Stimmung im Proletariat und der Stimmung im Mittelstand ziehen.

Das Proletariat ist antifaschistisch auf Grund seines Klassenbewußtseins; es faßt den Kampf gegen den Faschismus als einen gewaltsamen Kampf auf, der die Sachlage vollständig umwälzen und die Diktatur der Revolution an Stelle der Diktatur des Faschismus setzen wird. Das Proletariat will seine Rache, nicht im banalen, sentimentalen Sinne des Wortes, es will seine Rache im geschichtlichen Sinne.

Das revolutionäre Proletariat begreift instinktgemäß, daß auf die Tatsache des Wachstums und der Herrschaft der Kräfte der Reaktion mit der Tatsache der Gegenoffensive der oppositionellen Kräfte geantwortet werden muß; das Proletariat fühlt, daß nur durch eine neue Periode schwerer Kämpfe und - im Falle des Sieges - durch die Diktatur des Proletariats die Sachlage grundlegend geändert werden kann. Das Proletariat erwartet diesen Augenblick, um dem Klassenfeind mit einer durch die Erfahrungen verzehnfachten Energie die Schläge zurückzugeben, die es heute hinnehmen muß.

Der Antifaschismus des Mittelstandes hat einen weniger aktiven Charakter. Es handelt sich allerdings um eine starke, gefühlsmäßige Opposition, aber dieser Opposition liegt eine pazifistische Einstellung zugrunde: Man wünscht von ganzem Herzen, in Italien das normale politische Leben, mit vollständiger Meinungs- und Diskussionsfreiheit, aber ohne Stockschläge, ohne Anwendung von Gewalt, wiederherzustellen. Alles soll zu normalen Verhältnissen zurückkehren; Faschisten sowohl wie Kommunisten sollen das Recht haben, ihre Überzeugung zu vertreten. Das ist die Illusion des Mittelstandes, der ein gewisses Gleichgewicht der Kräfte und die demokratische Freiheit erstrebt.

Zwischen diesen beiden Stimmungen, die aus der Unzufriedenheit mit dem Faschismus in Italien entstehen, muß scharf unterschieden werden. Die letztere Stimmung bietet für unser Vorgehen Schwierigkeiten, die wir nicht unterschätzen dürfen.

Auch in der Bourgeoisie im engeren Sinne des Wortes herrschen heute Zweifel über die Zweckmäßigkeit der faschistischen Bewegung. Es bestehen gewisse Besorgnisse. Die beiden obenerwähnten Presseorgane sind bis zu einem gewissen Grade die Träger dieser Auffassungen. Sie fragen: Ist dies die richtige Methode? Ist es nicht übertrieben? Wir haben im Interesse unserer Klassenziele einen Apparat geschaffen, der gewisse Funktionen ausüben sollte, Aber wird er diese Funktionen und diese Ziele nicht überschreiten? Wird er nicht dazu gezwungen werden, mehr zu tun, als gut ist? Die intelligentesten Schichten der italienischen Bourgeoisie sind für die Revision des Faschismus und seiner reaktionären Ausschreitungen, aus Furcht, daß diese Ausschreitungen notwendigerweise zu einer revolutionären Explosion führen werden. Natürlich liegt es im ausgesprochenen Interesse der Bourgeoisie, daß diese Schichten der herrschenden Klasse in ihrer Presse eine Kampagne gegen den Faschismus führen, um ihn auf den Boden der Legalität zurückzuführen, um ihn zu einem sichereren und geschmeidigeren Werkzeug zur Ausbeutung der Arbeiterklasse zu machen. Sie treten für die geschickte Politik scheinbarer Konzessionen an das Proletariat ein, während sie gleichzeitig ihrer Begeisterung über die Resultate des Faschismus, über die Wiederherstellung der bürgerlichen Ordnung und die Rettung ihres Fundamentes, des privaten Eigentums, Ausdruck geben.

Diese Stimmungen haben jedoch eine sehr große Tragweite.

So ist z. B. der Senator Agnelli, der Direktor der großen Automobilfabrik Fiat und der größte Kapitalist Italiens, ein Liberaler. Wenn man aber, wie einige italienische Genossen das getan haben, die Bedeutung einer derartigen Tatsache überschätzt, so stößt man sofort auf die Proteste der Fiatarbeiter, die versichern, daß im Fiatbetrieb genau dieselbe Reaktion wie in andern Betrieben herrscht, die unter der Leitung von persönlich der faschistischen Partei angehörenden Kapitalisten stehen. Agnelli ist lediglich ein geschickterer Industriemagnat; er begreift, daß es sehr gefährlich ist, die Arbeitermassen zu provozieren; er erinnert sich der unangenehmen Augenblicke, die er durchlebte, als die Arbeiter seine Werkstätten und Betriebe besetzten und auf ihnen die rote Fahne hißten; er gibt dem Faschismus wohlmeinende Ratschläge, damit er auf intelligentere Weise den Kampf gegen das Proletariat durchführe. Offensichtlich ist der Faschismus für solche Ratschläge nicht taub.

Vor dem Fall Matteotti hatte der Faschismus den Weg nach links eingeschlagen. Mussolini hatte am Vorabend der Ermordung Matteottis eine Rede gehalten, in der er sich an die Opposition wandte und das Folgende ausführte: "Ihr bildet die neue Kammer. Wir hätten es nicht nötig gehabt, Wahlen vorzunehmen; wir hätten eine diktatorische Macht ausüben können, aber wir wollten uns an das Volk selber wenden. Ihr müßt heute zugeben, daß das Volk uns als Antwort seine vollständige Zustimmung, eine erdrückende Mehrheit gegeben hat." Gerade Matteotti war es, der dies bestritt, indem er erklärte, daß vom demokratischen und konstitutionellen Standpunkt aus der Faschismus geschlagen, die Regierung in der Minderheit geblieben sei, daß ihre Mehrheit eine künstliche und betrügerische wäre. Natürlich gab der Faschismus das nicht zu. Mussolini argumentiert folgendermaßen: "Auf Grund der offiziellen Ziffern haben wir die Mehrheit. Ich wende mich an die Opposition. Man kann auf zweierlei Art Opposition treiben. Erstens auf die Art der Kommunisten. Diesen Herren habe ich nichts zu sagen. Sie sind vollkommen logisch. Ihre Absicht ist, uns eines Tages durch revolutionäre Gewalt zu stürzen und die proletarische Diktatur einzusetzen. Wir antworten ihnen: Wir werden nur einer überlegenen Macht weichen. Wollt ihr den Kampf mit uns wagen, nun wohl! Den anderen Oppositionsgruppen sagen wir: Die Anwendung revolutionärer Gewalt steht nicht in eurem Programm; Ihr bereitet keinen Aufstand gegen uns vor. Was bezweckt ihr? Wie gedenkt ihr euch der Macht zu bemächtigen? Das Gesetz gibt uns fünf Jahre als Legislaturperiode dieser Kammer. Bei Neuwahlen würden wir übrigens das gleiche Resultat erzielen. Das beste ist also, zu einer Verständigung zu kommen. Wir haben vielleicht übertrieben, haben vielleicht das Maß überschritten. Wir haben illegale Methoden angewandt, die ich mich zu unterdrücken bemühe. Ich fordere euch zur Zusammenarbeit auf! Bringt Vorschläge, bringt eure eigenen Gedanken! Wir werden eine mittlere Linie finden."
Das war ein Appell zur Zusammenarbeit an alle nichtrevolutionären Oppositionsgruppen. Einzig und allein die Kommunisten schloß Mussolini von seiner Aufforderung aus.

Übrigens hat er mehr als einmal erklärt daß mit dem Gewerkschaftsbund eine Verständigung möglich sei, weil dieser nicht auf dem Boden der demagogischen Revolutionstheorie stehe, weil der Bolschewismus nunmehr liquidiert sei usw.

So lagen die Dinge. Diese Haltung Mussolinis zeigt die Stärke an, zu der sich die antifaschistische Opposition entwickelt hatte. Die Regierung sah sich gezwungen, eine Wendung nach links zu machen.

Aber die Bombe kam zum Platzen. Der Fall Matteotti hat die Lage in Italien vollständig verändert. Die Vorgänge sind bekannt: Eines Tages war der reformistische Abgeordnete Matteotti verschwunden. Zwei Tage lang wartete seine Familie vergebens auf seine Rückkehr. Dann wandte sie sich an die Polizei. Die Polizei behauptete, von nichts zu wissen. Nachdem die Zeitungen die Nachricht von dem Verschwinden Matteottis gebracht hatte, erzählten einige Augenzeugen, sie hätten gesehen, wie Matteotti auf der Straße von fünf Individuen überwältigt und gewaltsam in ein Automobil geschleppt worden sei; dieses sei sofort mit höchster Geschwindigkeit davon gefahren.

Der öffentlichen Meinung bemächtigte sich sofort große Erregung. Man glaubte, daß Matteotti vielleicht gefangen gehalten werde, daß man es vielleicht nur mit einer Rückkehr zum individuellen Terror, zu der Politik der "Stockschläge" zu tun habe, daß man ihn vielleicht nur habe zwingen wollen, irgendeine Erklärung zu unterzeichnen. Handelte es sich darum oder um noch Schlimmeres? Handelte es sich möglicherweise um einen Mord?

Dir Regierung wurde aufgefordert, diese Frage zu lösen. Mussolini erklärte sofort: Wir werden die Schuldigen suchen. Man nahm Verhaftungen vor, und man begriff dann sehr bald, daß Matteotti ermordet worden war von Mitgliedern einer faschistischen Bande, die mit der terroristischen Organisation der faschistischen Partei in Zusammenhang stand.

Die Faschisten nahmen sofort die folgende Haltung ein: Es handelt sich um einen beklagenswerten Akt jener illegalen Richtung, die wir bekämpfen, und gegen die Mussolini sich immer gewendet hat. Es handelt sich um einen individuellen Akt, um ein gemeines Verbrechen. Wir werden gegen die Schuldigen einschreiten.

Aber die öffentliche Meinung begnügte sich damit nicht. Die gesamte Presse beeilte sich, zu beweisen, daß die Initiative zu dem Verbrechen keine rein persönliche sein könne, daß im Gegenteil die Mörder Mitglieder eines Geheimbundes, einer Art schwarzer Bande seien, die bereits bei anderer Gelegenheit ähnliche Verbrechen dieser Art begangen habe, Verbrechen, die ungestraft geblieben seien, weil sie nicht denselben Widerhall wie die Ermordung Matteottis erweckt hatten.

Immer mehr Leute werden beschuldigt. Man beginnt, Persönlichkeiten der faschistischen Partei anzugreifen. Man weist nach, daß das in Frage kommende Automobil durch die extrem faschistische Zeitung "Corriere Italiano" geliefert worden ist. Ja, man zieht noch höhere Stellen zur Verantwortung. Man klagt ein Mitglied des faschistischen "Direktoriums der Vier", Cesare Rossi, an; Man beschuldigt den Unterstaatssekretär des Innern, Aldo Finzi. Verschiedene Verhaftungen faschistischer Persönlichkeiten sind die Folge. Die Antifaschisten leiten eine heftige Pressekampagne ein.

Es entsteht die Frage: Wer ist verantwortlich für den Mord? Denn es liegt ohne Zweifel ein Mord vor, obwohl die Leiche bis heute nicht gefunden ist. Handelt es sich um ein Verbrechen des politischen Fanatismus, um ein politisches Verbrechen, einen Racheakt für die Rede, die Matteotti in der Kammer gegen den Faschismus gehalten hat? Oder handelt es sich lediglich um einen Irrtum ausführender Organe? Diese Annahme ist meiner Ansicht nach durchaus nicht ausgeschlossen. Vielleicht sollte Matteotti einfach ein oder zwei Tage gefangengehalten werden und ist dann infolge des gewaltsamen Widerstandes, den er leistete, von den Banditen, die ihn entführten, getötet worden. Oder handelt es sich vielleicht um etwas noch Verdächtigeres? Es heißt, daß Matteotti gewisse Dokumente über persönliche Korruption einer Reihe von Mitgliedern der faschistischen Regierung besaß, und daß er diese Dokumente veröffentlichen wollte. Vielleicht wollte man ihn aus diesem Grunde beseitigen? Diese Hypothese hat jedoch keine große Wahrscheinlichkeit für sich. Matteotti hätte sicher nicht die Unvorsichtigkeit besessen, derartige Dokumente mit sich zu tragen, und selbst, wenn das der Fall gewesen wäre, so hätten sicherlich Kopien dieser Dokumente existiert. Dennoch ist im Verlaufe der Pressekampagne versichert worden, daß das Ministerium des Innern ein Geschäftslokal geworden sei, wo die italienischen und auswärtigen Kapitalisten von der Regierung jede Verfügung kaufen könnten. Man hat von großen Summen gesprochen, die gewisse hohe Staatsbeamte erhalten haben, zum Beispiel im Falle Sinclair, d. h. dem Petroleumvertrag, auf Grund dessen eine auswärtige kapitalistische Firma das Monopol für die Petroleumgewinnung in Italien erhalten hat. Auch die Spielbank von Monte Carlo soll für den Erlaß des Gesetzes, das die Erlaubnis zur Eröffnung von Spielhöllen in Italien einschränkt, eine enorme Summe gezahlt haben. Auf Grund dieser Gerüchte wurde Finzi durch die Faschisten selbst dazu gezwungen, sofort seine Demission einzureichen.

Die Frage bleibt offen: Handelt es sich um ein politisches Verbrechen im engeren Sinne des Wortes oder um ein Verbrechen, veranlaßt durch die Notwendigkeit, den Zeugen der moralischen Korruption der faschistischen Regierung zum Stillschweigen zu bringen?

Möge nun aber der eine oder der andere Fall zutreffen, die Haltung der bürgerlichen Opposition und der kommunistischen Opposition gegenüber beiden Möglichkeiten ist eine durchaus verschiedene.

Was sagt die bürgerliche Opposition? Für sie handelt es sich um eine reine Justizangelegenheit. Sie verlangt von der Regierung die Bestrafung der Schuldigen. Sie stellt sich auf den Standpunkt, daß die Regierung sich nicht darauf beschränken darf, die unmittelbaren Mörder festzustellen, sondern daß die Gerichte die gesamte Angelegenheit aufdecken, und daß selbst die hochstehenden Persönlichkeiten, ja vielleicht die Mitglieder der Regierung, die in die Affäre verwickelt sind, zur Verantwortung gezogen werden müssen.

Man klagte z. B. auf Grund der Feststellung gewisser Mitschuldiger den General de Bono, den obersten Leiter der Behörde für die öffentliche Sicherheit an, der daraufhin sein Amt niederlegen mußte. Das zeigt bis wie hoch hinauf in die faschistische Hierarchie die Verantwortung reicht. De Bono bleibt übrigens nach wie vor oberster Befehlshaber der "Nationalen Miliz".

Die bürgerliche Opposition betrachtet also die ganze Angelegenheit als Justizfall, als Frage der politischen Moral, der Wiederherstellung der Ruhe und des sozialen Friedens im Lande; sie meint, daß mit dem Terror und mit derartigen Gewalttaten Schluß gemacht werden muß.

Im Gegensatz dazu handelt es sich unserer Ansicht nach um eine politische, historische Angelegenheit, um eine Frage des Klassenkampfes, um eine krasse, aber notwendige Folge der kapitalistischen Offensive zur Verteidigung der italienischen Bourgeoisie. Auf die gesamte faschistische Partei, auf die gesamte Regierung, auf die gesamte bürgerliche Klasse Italiens und deren Regime fällt die Verantwortung dafür, daß derartige Greueltaten heute möglich sind. Es muß offen ausgesprochen werden, daß einzig und allein die revolutionäre Aktion des Proletariats eine derartige Lage liquidieren kann; eine Lage, die solche Symptome aufweist, kann nicht mehr durch eine reine Justizmaßnahme, durch die philiströse Wiederherstellung von Gesetz und Ordnung gerettet werden. Dazu ist im Gegenteil eine Zerstörung der bestehenden Ordnung, eine vollständige Umwälzung erforderlich, die nur durch das Proletariat herbeigeführt werden kann.

Im ersten Augenblick haben die Kommunisten sich den Protestmethoden der parlamentarischen Opposition in der Kammer angeschlossen. Aber es war sehr schnell nötig, eine Trennungslinie zwischen unserer Opposition und jener zu ziehen, und die Kommunisten haben sich an den weiteren Erklärungen der anderen Parteien nichtmehr beteiligt.

Auch die Maximalisten sind im gemeinsamen Ausschuß der parlamentarischen Opposition vertreten.

Wir haben in dieser Hinsicht einen sehr charakteristischen Vorfall zu verzeichnen. Die KP hatte sofort als Protestaktion gegenüber der Ermordung Matteottis die Durchführung des Generalstreiks für ganz Italien vorgeschlagen. Spontane Streiks waren bereits in einer Reihe von Städten ausgebrochen, wodurch bewiesen wird, daß es sich um einen ernsthaften und konkreten Vorschlag handelte.

Die anderen Parteien schlugen unter Zustimmung der Maximalisten demgegenüber vor, als Protestaktion zu Ehren Matteottis einen Streik von zehn Minuten durchzuführen. Dabei stießen den Reformisten, den Maximalisten, dem Gewerkschaftsbund und den übrigen Oppositionsgruppen das Unglück zu, daß der Verband der Industriellen und die faschistischen Gewerkschaften diesen Vorschlag sofort annahmen und sich offiziell an der Demonstration beteiligten! Dadurch hat diese Protestaktion natürlich jede Bedeutung als Klassenaktion verloren. Es liegt heute klar zutage, daß allein die Kommunisten einen Vorschlag machten, durch den das Proletariat tatsächlich entscheidend hätte in die Ereignisse eingreifen können.

Welche Aussichten bietet die heutige Sachlage für die Regierung Mussolini?

Vor den letzten Ereignissen waren wir gezwungen festzustellen, daß allerdings eindrucksvolle Äußerungen einer wachsenden Unzufriedenheit mit dem Faschismus vorlagen, aber daß dessen militärische und staatliche Organisation zu gewaltig war, um eine Macht aufkommen zu lassen, die für die nächste Zukunft an den Sturz des Faschismus hätte praktisch herangehen können. Die Unzufriedenheit nahm zu, die Lage verschlechterte sich, aber wir waren noch weit von der Krise entfernt.

Die neuesten Ereignisse sind ein schlagendes Beispiel dafür, wie kleine Ursachen große Wirkungen auslösen. Die Ermordung Matteottis hat die Entwicklung der Dinge außerordentlich beschleunigt, wenn auch die Voraussetzungen für diese Entwicklung naturgemäß schon vorher latent in den sozialen Zuständen vorhanden waren. Das Tempo der Krise des Faschismus ist stark beschleunigt worden, die faschistische Regierung hat moralisch, psychologisch und im gewissen Sinne auch politisch eine vernichtende Niederlage erlitten. Diese Niederlage hat sich noch nicht auf dem Gebiet der politischen, militärischen und Verwaltungsorganisation ausgewirkt, aber offensichtlich ist eine solche moralische und politische Niederlage der erste Schritt auf dem Wege der weiteren Entwicklung der Krise und des Ringens um die Macht.

Die Regierung hat erhebliche Zugeständnisse machen müssen. Mussolini sah sich z. B. gezwungen, den Posten des Ministers des Innern dem alten nationalistischen Führer und heutigen Faschisten Fedusoni auszuliefern; er sah sich zu andern Zugeständnissen gezwungen; aber noch hält er die Macht in Händen.

In seiner Rede im Senat hat er offen erklärt, daß er seinen Platz behaupten und alle Machtmittel, über die er noch verfüge, gegen denjenigen, der ihn angreife, anwenden werde. Nach den letzten Nachrichten aus Italien hat der Sturm der Entrüstung in der Öffentlichkeit noch nicht abgenommen. Aber die materielle Sachlage ist stabiler geworden. Die Nationale Miliz, die zwei Tage nach der Ermordung Matteottis mobilisiert wurde, ist wieder demobilisiert, ihre Mitglieder kehren zu ihrer gewöhnlichen Beschäftigung zurück. Das bedeutet, daß die Regierung die unmittelbare Gefahr für beseitigt hält. Klar ist jedoch, daß zu einem viel näheren Zeitpunkt, als wir es vor der Ermordung Matteottis annahmen, bemerkenswerte Ereignisse eintreten werden.

Klar ist auch, daß die Lage des Faschismus in der Zukunft eine sehr viel schwierigere sein wird und daß die praktischen Möglichkeiten für antifaschistische Aktionen heute auf Grund der eingetretenen Ereignisse andere sind als zuvor.

Wie müssen wir uns dieser neuen Lage, die so unvermutet eingetreten ist, gegenüber verhalten? Ich werde meine Sicht hier in schematischer Form darlegen.

Die KP muß die selbständige Rolle betonen, die ihr durch die Lage in Italien zugewiesen wird, und muß eine Parole folgenden Inhalts ausgeben: Liquidierung der bestehenden antifaschistischen Oppositionsgruppen und Ersatz derselben durch direkte und offene Aktion der kommunistischen Bewegung. Wir stehen heute vor Tatsachen, die die KP in den Vordergrund des Interesses rücken. Während einer gewissen Zeit nach der Eroberung der Macht durch den Faschismus fanden massenhafte Verhaftungen unserer Genossen statt. Damals hieß es, die kommunistischen und bolschewistischen Kräfte seien vernichtet, sie seien in alle Winde zerstreut. Die revolutionäre Bewegung sei vollkommen liquidiert.

Aber seit einiger Zeit, seit den Wahlen und andern Vorgängen, hat die Partei zu starke Lebenszeichen von sich gegeben, als daß diese Behauptung noch aufrechterhalten werden könnte. In allen seinen Reden ist Mussolini gezwungen, die Kommunisten zu erwähnen. In der Polemik über den Fall Matteotti muß die faschistische Presse sich jeden Tag gegen die Kommunisten verteidigen und Stellung gegen sie nehmen.

Das lenkt alle Blicke auf unsere Partei und auf die besondere selbständige Aufgabe, die ihr gegenüber allen andern unter sich eng verwandten Oppositionsgruppen zufällt. Unsere Partei zieht durch die besondere Stellung, die sie einnimmt, eine scharfe Trennungslinie zwischen sich und jenen andern Gruppen. Übrigens ist im italienischen Proletariat dank der Erfahrungen der vergangenen Klassenkämpfe in Italien während des Krieges wie in der Nachkriegszeit und dank der grausamen Enttäuschungen, die es durchgemacht hat, das Bewußtsein der Notwendigkeit der vollständigen Liquidierung aller sozialdemokratischen Richtungen - von der bürgerlichen Linken bis zur proletarischen Rechten fest verankert. Alle diese Richtungen haben die praktische Möglichkeit gehabt, sich zu betätigen und sich zu bewähren. Die Erfahrung hat bewiesen, daß sie alle unzulänglich und unfähig sind. Die Vorhut des revolutionären Proletariats, die Kommunistische Partei, ist die einzige, die noch nicht versagt hat.

Um jedoch in Italien eine selbständige Politik führen zu können, ist es unbedingt notwendig, daß innerhalb der Partei selbst kein Defätismus herrscht. Man darf nicht den italienischen Arbeitern, die zur Partei und zu deren Bestrebungen vertrauen haben, erzählen, daß die bisherigen kommunistischen Versuche zur Aktion einen Bankrott und einen Mißerfolg bedeuten! Beweisen wir durch die Tat, daß die Partei es versteht, den Kampf zu organisieren und ihre eigene Taktik durchzuführen, beweisen wir durch die Tat, daß die Partei als einzige Oppositionspartei noch lebt. Vermögen wir es, zweckmäßige Parolen auszugeben und einen gangbaren Weg zum Umsturz zu zeigen, so werden wir unsere Aufgabe der Liquidation der Oppositionsgruppen, und vor allem der Liquidation der Sozialisten und Maximalisten erfolgreich durchführen.
In diesem Sinne muß, glaube ich, die augenblickliche Lage in Italien von uns ausgewertet werden.

Die Arbeit in dieser Richtung darf sich jedoch nicht auf Polemik beschränken, es muß praktische Arbeit zur Eroberung der Massen geleistet werden. Ziel dieser Arbeit ist die einheitliche Zusammenfassung der Massen zur revolutionären Aktion, die Einheitsfront des Stadt- und Landproletariats unter Führung der Kommunistischen Partei. Erst mit dieser einheitlichen Zusammenfassung haben wir auch die Voraussetzung verwirklicht, die es uns ermöglichen wird, den direkten Kampf gegen den Faschismus aufzunehmen. Das ist eine große Arbeit, die unter Festhaltung der Selbständigkeit der Partei geleistet werden kann und geleistet werden muß.

Es besteht die Möglichkeit, daß auf Grund der Affäre Matteotti der Faschismus eine "zweite Welle" des Terrors, eine neue Offensive gegen die Opposition durchführt. Aber auch das wird nur eine Episode in der Entwicklung der Sachlage bleiben. Vielleicht werden wir einen Rückzug der Opposition, ein Nachlassen des öffentlichen Ausdrucks der Unzufriedenheit infolge dieses neuen Terrors erleben. Im Laufe der Zeit werden die Opposition und die Unzufriedenheit jedoch wieder zunehmen. Der Faschismus kann seine Macht nicht durch dauernden und unaufhörlichen Druck aufrechterhalten. Vielleicht besteht auch die andere Möglichkeit: auf Initiative der KP die Arbeitermassen zusammenzufassen und die Parole des Wiederaufbaus der roten Gewerkschaften auszugeben. Vielleicht wird es möglich sein, morgen mit dieser Arbeit zu beginnen.

Die Opportunisten weigern sich, diese Arbeit zu leisten. Es gibt Städte in Italien, wo man mit sicherem Erfolg die Arbeiter auffordern könnte, in die roten Gewerkschaften zurückzukehren. Aber da diese Rückkehr gleichzeitig das Signal zum Kampfe bedeuten würde, da man gleichzeitig bereit sein müßte, den Kampf gegen die Faschisten aufzunehmen, beeilen sich die opportunistischen Parteien nicht, die Massenorganisationen des Proletariats wiederherzustellen.

Ist die Kommunistische Partei die erste, die den günstigen Moment für die Ausgabe dieser Parole ausnützt, so ist die Möglichkeit gegeben, daß die Reorganisation der italienischen Arbeiterbewegung sich um die KP als Zentrum vollzieht.

Auch vor der Lage, die durch den Fall Matteotti geschaffen wurde, war unsere selbständige Haltung das beste Manöver, das wir ausführen konnten. Bei den Wahlen z.B. haben selbst nichtkommunistische Elemente für die kommunistischen Listen gestimmt, weil sie im Kommunismus, wie sie sagten, den klarsten und radikalsten Antifaschismus, die schärfste Ablehnung dessen, was ihnen verhaßt war, fanden.

So ist unsere selbständige Stellung ein Mittel, um politischen Einfluß sogar auf die nicht direkt mit uns verbundenen Schichten auszuüben.

Gerade der Tatsache, daß wir mit einem vollkommen eindeutig Programm aufgetreten sind, ist der große Erfolg der KP bei den Wahlen trotz der in erster Linie gegen unsere Listen und unsere Wahlarbeit gerichteten Offensive der Regierung zu verdanken.

Wir traten offiziell mit der Parole "Einheit des Proletariats" auf, aber die Massen gaben uns ihre Stimmen, weil wir Kommunisten waren, weil wir offen dem Faschismus den Kampf ansagten, weil die Gegner uns als unversöhnlich bezeichneten. Diese Haltung hat uns bedeutende Erfolge eingebracht.

Ähnlich liegen die Dinge beim Fall Matteotti. Alle Augen sind auf die Kommunistische Partei gerichtet, die eine andere Sprache als die sonstigen Oppositionsparteien führt.

Es folgt daraus, daß nur eine vollkommen eindeutige und radikale Haltung gegenüber dem Faschismus sowohl wie gegenüber der Opposition uns in die Lage versetzen wird, die im Gange befindliche Entwicklung auszunützen, um die gewaltige Macht des Faschismus zu stürzen.

Dieselbe Arbeit muß zur Eroberung der Bauernmassen geleistet werden. Wir müssen zu einer Organisationsform für die Bauernschaft kommen, die es uns ermöglicht, nicht nur unter den Landarbeitern, die gewissermaßen auf einer Linie mit den Industriearbeitern stehen, sondern auch unter den Pächtern, den Kleinbauern usw. - innerhalb ihrer Organisationen, die deren Klasseninteressen verteidigen - zu arbeiten. Die Wirtschaftslage ist derart, daß kein noch so großer Druck heute die Bildung solcher Organisationen verhindern kann. Es muß versucht werden, diese Frage unter den Kleinbesitzern aufzuwerfen und ein klares Programm gegen ihre Unterdrückung, gegen die Expropriation der Kleinbauern aufzustellen. Es muß mit der zweideutigen Haltung der Sozialistischen Partei auf diesem Gebiet völlig gebrochen werden.

Man muß die vorhandenen Strömungen zur Bildung von Bauernorganisationen auszunützen und diese Organisationen auf den Weg der Verteidigung der wirtschaftlichen Interessen der Bauernschaft drängen. Bilden sich nämlich diese Organisationen zu Wahlapparaten aus, so werden sie den bürgerlichen Agitatoren, den Politikern und Advokaten der Kleinstädte in die Hände fallen.

Gelingt es uns dagegen, provinzial und national eine Organisation zur Verteidigung der wirtschaftlichen Interessen der Bauernschaft (keine Gewerkschaft, denn theoretisch stößt der Gedanke einer Gewerkschaft der Kleinbesitzer auf sehr erhebliche Einwendungen) ins Leben zu rufen, so werden wir damit eine Vereinigung haben, innerhalb derer wir Zellenarbeit leisten, die wir mit unserem Einfluß durchdringen können, und in der wir einen Stützpunkt für den Block des Stadt- und Landproletariats unter alleiniger Führung der Kommunistischen Partei finden.

Es handelt sich durchaus nicht darum, ein terroristisches Programm aufzustellen.

Man hat Legenden über uns gebildet. Man hat gesagt, daß wir eine Minderheitspartei, eine kleine Elite oder ähnliches sein wollten. Das haben wir niemals behauptet. Wenn es eine Bewegung gibt, die sich unablässig durch ihre Kritik wie durch ihre Taktik bemüht hat, die Illusionen über terroristische Minderheiten, die früher von anarchistischen und syndikalistischen Elementen verbreitet wurden, zu zerstören, so ist es gerade unsere Partei gewesen.

Wir haben uns immer dieser Tendenz widersetzt, und es heißt tatsächlich die Dinge auf den Kopf stellen, wenn man uns als Terroristen oder als Befürworter der Aktion bewaffneter, heldenhafter Minderheiten usw. hinstellt!
Wir sind jedoch der Ansicht, daß zu dem Problem der Entwaffnung der weißen Garden und der Bewaffnung des Proletariats, das unsere Partei augenblicklich beschäftigt, auch prinzipiell in klarer Weise Stellung genommen werden muß.

Gewiß, der Kampf ist nur unter Teilnahme der Massen möglich. Die große Masse des Proletariats weiß sehr wohl, daß die Frage nicht durch die Offensive einer heroischen Vorhut gelöst werden kann. Das ist eine naive Auffassung, die jede marxistische Partei zurückweisen muß. Aber wenn wir die Parole der Entwaffnung der weißen Garden und der Bewaffnung des Proletariats in die Massen werfen, dann müssen wir es verstehen, diese Arbeitermassen selbst als Träger der Aktion hinzustellen; wir müssen die Illusion zurückweisen, als ob eine "Übergangsregierung" naiv genug sein könnte, um durch legale Mittel oder parlamentarische Vorgänge: durch mehr oder minder geschickte Manöver, die Umgehung der Stellung der Bourgeoisie zu ermöglichen, d. h. durch legale Inbesitznahme ihrer ganzen heutigen technischen und militärischen Maschinerie und friedliche Verteilung der Waffen an die Arbeiterschaft; und als ob man dann in aller Ruhe das Signal zum Kampf geben könnte. Das ist wahrhaftig eine kindliche und naive Vorstellung!

Es ist nicht ganz so einfach, die Revolution durchzuführen!

Wir sind vollkommen überzeugt von der Unmöglichkeit, den Kampf mit einigen Hunderten oder einigen Tausenden von bewaffneten Kommunisten aufzunehmen. Die Kommunistische Partei Italiens ist die letzte, die sich einer derartigen Illusion hingeben wird. Wir sind vollkommen überzeugt davon, daß es unumgänglich nötig ist, die breiten Massen mit in den Kampf zu ziehen. Aber die Bewaffnung ist ein Problem, das nur durch revolutionäre Mittel gelöst werden kann. Wir können die Verlangsamung in der Entwicklung des Faschismus ausnutzen, um proletarische revolutionäre Formationen zu schaffen. Aber wir müssen die Illusion liquidieren, daß irgend ein Manöver uns eines Tages in den Stand setzen wird, uns des technischen Apparats und der Waffen der Bourgeoisie zu bemächtigen, d. h. unsern Gegnern die Hände zu binden, bevor wir zum Angriff gegen sie schreiten.

Diese Illusion zu bekämpfen, die das Proletariat zur Trägheit in revolutionärer Hinsicht führt, ist kein Terrorismus. Es ist im Gegenteil wahrhaft marxistisch und revolutionär.

Wir sagen durchaus nicht, daß wir "auserwählte" Kommunisten seien und durch die Aktion einer kleinen Minderheit das soziale Gleichgewicht umstürzen wollen.

Wir wollen im Gegenteil die Führung der proletarischen Massen erobern, wir wollen die Einheit der Aktion des Proletariats; wir wollen jedoch auch die Erfahrungen des italienischen Proletariats ausnutzen, die gelehrt haben, daß Kämpfe unter der Leitung einer nicht konsolidierten Partei - selbst wenn es sich um eine Massenpartei handelt - oder unter der Leitung einer improvisierten Koalition von Parteien notwendigerweise zur Niederlage führen.

Wir wollen den gemeinsamen Kampf der Arbeitermassen in Stadt und Land, aber wir wollen die Führung dieses Kampfes durch einen Generalstab mit klarer politischer Linie, d. h. durch die Kommunistische Partei.

Das ist die Frage, vor der wir stehen.

Die Lage wird sich in mehr oder weniger komplizierter Weise entwickeln, aber schon heute ist die Voraussetzung für die Herausgabe von Parolen und für die Agitation in dem Sinne gegeben, daß die Kommunistische Partei Initiative und Leitung der Revolution für sich in Anspruch nimmt und offen erklärt, daß es notwendig ist, über die Trümmer der bestehenden antifaschistischen Oppositionsgruppen vorwärtszuschreiten.
Das Proletariat muß darauf gefaßt sein, daß im Augenblick, wo die Machtübernahme durch die Arbeiterschaft in Italien wiederum als akute Gefahr vor der kapitalistischen Klasse stehen wird, alle bürgerlichen und sozialdemokratischen Kräfte sich mit dem Faschismus verbünden werden. Das sind die Aussichten für den Kampf, auf den wir uns vorbereiten müssen.

Ich will zum Schluß auf Grund der Erfahrungen, die wir mit dem Faschismus in Italien gemacht haben, einige Worte über den Faschismus als internationale Erscheinung hinzufügen.

Wir sind der Ansicht, daß der Faschismus in gewisser Weise danach strebt, sich auch außerhalb Italiens auszubreiten. Einige ähnliche Bewegungen in andern Ländern, z. B. in Bulgarien, in Ungarn und vielleicht auch in Deutschland, sind wahrscheinlich durch den italienischen Faschismus unterstützt worden. Wenn aber auch die Lehren, die der Faschismus in Italien gegeben hat, vom Proletariat der ganzen Welt begriffen und ausgenutzt werden müssen, für den Fall, daß in andern Ländern ähnliche Bewegungen als Kampfmittel gegen die Arbeiterschaft sich herausbilden, so darf man doch nicht vergessen, daß es in Italien gewisse ganz besondere Vorbedingungen waren, die die Entwicklung der faschistischen Bewegung zu einer so gewaltigen Macht ermöglichten. Von diesen Voraussetzungen möchte ich in erster Linie die nationale und religiöse Einheit in Italien erwähnen.

Ich glaube, daß diese beiden Voraussetzungen unentbehrlich sind für die Mobilisierung des Mittelstandes durch den Faschismus. Für diese gefühlsmäßige Mobilisierung ist unbedingt die nationale und religiöse Einheit als Grundlage erforderlich.

Der Bildung einer großen faschistischen Partei steht in Deutschland offensichtlich das Vorhandensein zweier verschiedener Konfessionen im Lande und verschiedener Nationalitäten mit teilweise separatistischer Tendenz entgegen.

In Italien waren die Voraussetzungen für den Faschismus außerordentlich günstig. Italien gehörte zu den Siegerstaaten. Chauvinismus und Patriotismus waren dort bis zur Siedehitze gesteigert, während die materiellen Vorteile des Sieges ausblieben.

Mit dieser Tatsache steht die Niederlage des Proletariats in engem Zusammenhang. Der Mittelstand wartete eine Weile, um sich zu überlegen, ob das Proletariat die Kraft hätte, zu siegen. Als sich jedoch die Ohnmacht der revolutionären Parteien des Proletariats zeigte, glaubte er selbständig auftreten und die Regierung in seine eigenen Hände nehmen zu können. In der Zwischenzeit konnte die Großbourgeoisie diese Kräfte vor den Wagen ihrer eigenen Interessen spannen.

Auf Grund dieser Tatsachen bin ich der Meinung daß wir in den andern Ländern noch nicht einen so ausgesprochenen Faschismus wie den italienischen Faschismus zu erwarten haben, Faschismus in dem Sinne einer einheitlichen Bewegung der ausbeutenden Oberschichten und einer Mobilisierung der breiten Massen des Mittelstandes und der Kleinbourgeoisie im Interesse dieser Schichten.

Der Faschismus in den andern Ländern unterscheidet sich von dem italienischen. Er beschränkt sich dort auf eine kleinbürgerliche Bewegung, mit durch und durch reaktionärer kleinbürgerlicher Ideologie, mit gewissen bewaffneten Formationen, einer Bewegung, der es jedoch nicht gelingt, sich vollständig mit der Großindustrie und vor allem mit dem Staatsapparat zu identifizieren. Dieser Staatsapparat kann wohl in eine Koalition mit den Parteien dar Großindustrie, der Großbanken und der Großgrundbesitzer treten, aber in seinen Beziehungen zum Mittelstand und zur Kleinbourgeoisie bleibt er mehr oder weniger selbständig. Es ist klar, daß auch dieser Faschismus für das Proletariat einen Feind bedeutet. Aber dieser Feind ist weit weniger gefährlich als der italienische Faschismus.

Meiner Ansicht nach ist die Frage der Beziehungen zu einer solchen Bewegung vollständig gelöst: Es ist Wahnsinn, an irgendwelche Verbindung mit ihr zu denken. Diese Bewegung ist es ja, die die Basis für die politische, konterrevolutionäre Mobilisierung der halbproletarischen Klassen abgibt. Es bringt große Gefahren mit sich, das Proletariat selbst auf diese Basis zu führen.

Im allgemeinen können wir im Ausland eine Kopie des italienischen Faschismus erwarten, die sich mit den Erscheinungsformen der "demokratischen und pazifistischen Welle" kreuzen wird. Aber der Faschismus wird dort andere Formen als in Italien annehmen.
Die Reaktion und die kapitalistische Offensive der verschiedenen im Kampfe gegen das Proletariat stehenden Schichten werden dort nicht unter so einheitlicher Leitung stehen wie in Italien.

Man hat sehr viel von Organisationen des italienischen Faschismus im Ausland gesprochen. Diese Organisationen sind von italienischen Bourgeois gebildet worden, die ins Ausland emigriert sind. Auf der Tagesordnung steht ferner die Frage der Beurteilung des italienischen Faschismus von seiten der internationalen öffentlichen Meinung: der Propagandakampagne der Kulturländer gegen ihn. Man meint sogar in der moralischen Entrüstung der Bourgeoisie der andern Länder ein Mittel zu sehen, um die faschistische Bewegung zu liquidieren.

Kommunisten und Revolutionäre können sich die Illusion über die demokratische und moralische Feinfühligkeit der Bourgeoisie der andern Länder nicht hingeben. Auch da, wo sich heute noch Pazifismus und linke Tendenzen zeigen, wird morgen der Faschismus als Methode des Klassenkampfes rücksichtslos angewandt werden. Wir wissen, daß das internationale Kapital sich nur freuen kann über die Taten des Faschismus in Italien, über den Terror, den er dort gegen Arbeiter und Bauernschaft ausübt.

Für den Kampf gegen den Faschismus können wir einzig und allein auf die revolutionäre proletarische Internationale zählen. Es handelt sich um eine Frage des Klassenkampfes. Wir wenden uns nicht an die demokratischen Parteien der andern Länder, an die Vereinigungen von Dummköpfen und Heuchlern, wie die "Liga für die Menschenrechte"; denn wir wollen nicht die Illusion erwecken, daß es sich bei ihnen um etwas vom Faschismus wesentlich Verschiedenes handelt, oder das die Bourgeoisie der andern Länder nicht imstande wäre, ihrer Arbeiterschaft dieselben Verfolgungen zu bereiten und dieselben Greueltaten zu vollbringen wie der Faschismus in Italien.

Wir zählen deshalb für den Aufstand gegen den italienischen Faschismus und für eine internationale Kampagne gegen den Terror in unserm Lande einzig und allein auf die revolutionären Kräfte in Italien und auswärts. Die Arbeiter der Länder sind es, die die italienischen Faschisten boykottieren müssen. Unsere im Verlaufe des Kampfes vertriebenen und ins Ausland geflüchteten italienischen Genossen werden keinen geringen Anteil an diesem Kampfe und an der Schaffung einer internationalen antifaschistischen Stimmung im Proletariat nehmen.

Die Reaktion und der Terror in Italien müssen einen Klassenhaß, eine Gegenoffensive des Proletariats auslösen, die uns zur internationalen Zusammenfassung aller revolutionären Kräfte, zum Kampf im Weltmaßstabe gegen den internationalen Faschismus und alle andern Formen der bürgerlichen Unterdrückung führt.

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Author Amadeo Bordiga
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